(...) Die Äußerung Hesses über Amerika, veröffentlicht 1932, daß mit "[Woodrow] Wilsons Fahnenflucht der demokratische Weltgedanke zusammengebrochen" sei, überschneidet sich mit der Äußerung Learys vom "Beginn des amerikanischen Imperiums um 1900" . Hesse erste Kritiken über Amerika und zum europäisch-amerikanischen Verhältnis finden sich jedoch schon früher. In der Parabel Die Stadt (1910) entwirft Hesse das Szenario einer Kulturentwicklung. Eine in der Prärie gegründete Stadt verdrängt die Wildnis, strebt "vorwärts", wie ‚der' Ingenieur zu Beginn ruft. Die Stadt erreicht eine industrielle und kulturelle Blüte, erlebt "eine blutige Revolution der unteren Stände" und erholt sich davon nicht mehr richtig. Derweil strebt ein "fernes Land jenseits der Meere" nach oben, zieht Kräfte und Sehnsüchte, die der alten Stadt Leben verleihen, ab. Im Niedergang blüht die geistige Kultur, und Bewohner der "jüngeren Welt" besuchen die "alte Stadt" als Touristen. Als die geistige Blüte vorbei ist, und das Land nicht mehr nutzbar ist, verfällt die Stadt, die Natur hält wieder Einzug.
Es ist eindeutig, daß Hesse mit der "alten Stadt" Europa meint und mit der jüngeren Welt Amerika, auch wenn er dies auf den Kopf stellt und durch Details verschleiert: Die alte Stadt befindet sich in der Prärie, die junge Welt "jenseits der Meere".
Die Parabel zieht nach sich, sie mit anderen Texten des Bereichs zu vergleichen. Im Jahr 1925 prognostizierte Coudenhove-Kalergi, daß Europa einen Niedergang gegenüber Amerika erleiden werde, wenn Europa durch Kriege und Zersetzung zu keiner Einigung finden sollte: "Das bankrotte Europa wird amerikanische Wirtschaftskolonie werden." Mit dem Entstehen verschiedener Machtblöcke sinke der Wert Europas. Dazu Hesse:

Die schöne Stadt begann langsam zu verarmen. Sie war nicht mehr Herz und Gehirn einer Welt, nicht mehr Markt und Börse vieler Länder. Sie mußte damit zufrieden sein, sich am Leben zu erhalten und im Lärme neuer Zeiten nicht ganz zu verblassen.

Die Sicht auf Amerika bei Hesse ist die Sicht auf eine konkurrierende Kultur und die Prognose und Warnung eines Niedergangs Europas. Hesse hat die Konkurrenz Jahre vor anderen Schriftstellern und Denkern erkannt, die allerdings, von Coudenhove-Kalergi bis Ernst Jünger, Konzepte ihrer Europavision vorlegten, während Hesse nur Wandel, Niedergang und eine europäische Mentalität erkennt. Haines, der Drehbuchautor des amerikanischen Steppenwolf-Films, schrieb:

Tief verwurzelt in der europäischen Tradition schien er [Hesse] die meisten amerikanischen und auch russischen Vorgänge [...] mit der nachdenklichen Resignation des letzten Römers zu beurteilen, der dem Lärm der herankommenden Vandalen zuhört.

Der Parabel Die Stadt folgte zum Themenkomplex die Parabel Der Europäer, geschrieben 1917 und 1918 unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlicht. Auffällig an dieser Erzählung über den letzten Europäer, der sich auf Noahs Arche rettet, und dort auf verschiedenste Völker trifft, ist vor allem eins: Amerikaner und Slawen fehlen. Außer dem Europäer erwähnt Hesse die farbige Menschheit, Indianer, Afrikaner, Hindus, Eskimos, Japaner, Malaien, Chinesen. Aus der Tatsache, daß Hesse Amerikaner und Slawen wegläßt, und den Europäer als einzigen Weißen nennt, ergibt sich, daß Hesse die Amerikaner und Slawen zwangsläufig den Europäern zurechnet. Damit geht er einher mit der Theorie Carl Friedrich von Weizsäckers, der bemerkte, Europa reiche von San Francisco bis Wladiwostok. (...)


(aus "Hermann Hesse und die USA" von Marcus Meier)

hier ein weiterer Ausschnitt aus dem Buch, über Hesse und die Drogen