Leseprobe:

(...) Beide Systeme - Anderswelt und Welt - waren anfangs keineswegs miteinander verbunden gewesen, sondern sogar auf verschiedenen, räumlich voneinander getrennten Datenträgern gespeichert. Die einzige Verbindung zwischen ihnen bestand, selbstverständlich, in Web- und Stromleitungen sowie, damit sie sich zentral bedienen ließen, einem hochgesicherten Interface. Sie hatten außerdem verschiedene Systemzeiten. Buenos Aires war der Welt vier Tage voraus, die wiederum spielte Wochen vor Garrafff, damit sich bei uns auf Grund der in Anderswelt und Welt gewonnenen Erkenntnisse gegebenenfalls Entscheidungen treffen ließen. Allerdings hatten wir Buenos Aires, nachdem die Geologische Revision ausgelöst und das CyberGebilde sowieso in ziemlich eigenwillige Nationen zerfallen war - in das von der Mauer vorm so genannten ThetisMeer geschützte Europa, die AlleghenyStaaten, an denen wir gar nicht herumexperimentierten, sondern die wir sich sozusagen vor sich hin entwickeln ließen, den Mormonenstaat, die Andenländer, den Hohen Atlas usw. - Daten aus der GarrafffKopie zugespielt, die sich nunmehr nach, wenn man so sagen kann, chaotischen Gesetzmäßigkeiten durcheinander mischten. Plötzlich fanden sich in Europa Stadtsegmente aus dem alten Kyoto, aus Mombasa und Bombay ein - Straßenzüge, die sich sogar, meist momentweise, selten für länger, übereinander legen konnten, als hätte das unübersehbare Maß von Verbindungen in der sagen wir Membran, die unsere Netzwerke erzeugt hatten, ein ganz eigenes Leben, eine Biosphäre entwickelt, in der die Dinge wie Lebenwesen reagierten. Die Topografie verwilderte und metastasengleich wucherten Exotismen in den ohnedies gigantischen Stadtkomplex. So erschreckend das war, waren wir doch neugierig gewesen. Man unterbricht nicht gerne selbst generative Prozesse. Ausgesprochen faszinierend, Deters unmittelbar nacheinander durch Berlin, Neapel oder Barcelona flanieren zu sehen, als hätte er die Orte, seit er nach Buenos Aires hineingestoßen worden war, wie Viren eingeschleppt oder, um es harmlos auszudrücken, wie Kletten Sande Sporen, die versehentlich abfallen und keimen. - Er war der erste Avatar, der seinen definierten Bezugsrahmen verließ. Vielleicht lag das an seiner wenig konturierten Identität. Manchmal verschwand er wieder von unseren Schirmen; er hinterließ dann nicht einmal elektronische Signaturen, jedenfalls keine uns bekannten. Das hatte uns nach seinem kurzen Erscheinen in Garrafff trügerisch beruhigt. Natürlich  m u s s t e  es irgendetwas Derartiges geben, aber wir kamen dem nicht auf die Schliche. Er war so etwas wie eine fließende Variable. Genau das brachte mich auf meine Idee.


 

Aus: Buenos Aires. Anderswelt.
von Alban Nikolai Herbst.
Berlin Verlag, 2001. 208 Seiten.
ISBN 3-8270-0428-4.