Im Sommer 2002 erschien Bettina Balàkas neuer Erzählband "Unter Jägern
(Literaturverlag Droschl, 140 Seiten, ISBN 3-8542-0610-0, ca. EUR 15,-) 

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin sowie des Verlages bieten wir unseren LeserInnen eine Leseprobe daraus:


(...) Der alte Mann hat mir schon seit einiger Zeit zugewunken, von der Hauswand, vom Sitz seiner Bank aus, seine Gesten sind knöchrig, schwachfingrig, aber endlich verstehe ich, zur Kapelle geht es hier dazwischen, hinunter, entlang. Das handgemalte Pappschild habe ich vorhin übersehen, es zeigt deutlich den Umriß einer orthodoxen Kirche mit Kuppel und Kreuz. Schon bin ich dort: das eiserne Tor, die steilen Zypressen, wenige steinerne Gräber ragen aus der Plattform des Kirchhofs, von der die Sicht mindestens ebenso prächtig ist wie oben vom Restaurant. Die Kapelle hebe ich mir auf, erst das niedrige Mäuerchen, auf dem man sitzen kann, ich sitze allein hier, denn es beginnt in böigen Schüben zu regnen. Das Aushalten. Das Durchhalten. Die Heiligen tragen am Kopf eine hölzerne Scheibe, einen aus Weiden gebundenen Kreis. Das Geweih. Das Geweihte gehört hier dem heiligen Georg: ich finde ihn sofort in der Kapelle, Bilder über Bilder gestapelt an der Altarwand, das Beste der Fresken zwischen Überschmierung und Schimmel und frischem und faulem Verputz. Vom Frühstück aus habe ich noch die im Wasser liegende Krokodilsinsel gesehen, mit einer Höhle als Auge. Und nun der Drachentöter: mit immer gleich erhobener Geste, dem immer gleich sich bäumenden Pferd, dem Speerstoß, dem immer sich krümmenden Drachen ins Maul. Herrgott, ich bin doch religiös, ich spende Geld zur Erhaltung und entzünde eine dünne Kerze, versenke mich in das Sandbecken, wo sie dahinschmilzt, die Deckenbögen sind schwarz und fleckig von Ruß. Es muß kommen. Ich werde es merken. Es wird meine Haut durchdringen oder mein Leben, ich werde nicht länger mit kranken Gliedern in einer schönen Landschaft stehen. Ich werde genießen, genesen, zufrieden sein mit einem kitzelnden Haarstrang, mit einer gewaschenen Hand. Das denke ich zumindest, und schon denke ich: Oh, diese Franzosen! Ils sont jolies, les fresques! Der Mann hat eine technische Meisterkamera, die Frau eine handliche Damenversion. Sie fotografieren die gesamte Innenseite der Kapelle ab, sie werden zu Hause das Kapelleninnere perfekt rekonstruieren, zweifach, zur Versicherung, zum Vergleich. Es blitzt von begeisterten Rufen  ich fühle mich aufgestöbert von meinem Stuhl, ich ersticke vor dem Verlassen, bitte, die Kerze im Sand.

Draußen steht der Mann aus dem Bus, wirft einen Ich-kenne-dich-Blick in die Landschaft. Sieh an, sieh an, sagt er, das ist das Furchtbare hier, man trifft immer dieselben Leute. Hören Sie, sagt er, es ist mir zwar egal, wie Sie hier wieder herunterkommen, aber ich könnte Ihnen einen wirklich interessanten Weg zeigen. Gemeinsam verlassen wir das Dorf, unter einem Rohbau schauen zwei Hunde hervor, der eine ist angekettet, der andere läuft uns nach. Ich festige das entstehende Freundschaftsband zwischen mir und dem Hund durch das Verfüttern von Kuchen, auch die Spinatpastete verschmäht er nicht. Die Illusion, einen Hund zu besitzen, der an der nächsten Kurve wartet und zurückblickt, der Feinde verbellt aus dem Terrain. Als der Mann einen steinigen Gipfel besteigen will  Wissen Sie, die Aussicht  kommt der Hund mit seinen kurzen Beinen nicht nach, schaut uns eine Weile nach aus dem violetten Thymiangestrüpp, wartet, schaut, läuft davon. Es ist sehr windig, ein eiskalter Wind, ich versuche meine Sturzangst zu verbergen. Zwei Füße auf den Steinen genügen nicht mehr, die Hand muß sich auch noch festhalten am Stein. Während der Mann Landmarken erklärt, sehe ich dort unten dem Hund nach, der kleiner werdend die Straße zurückläuft zum Dorf.

Wir biegen hier, sagt der Mann, von der Straße ab und folgen dem Bachlauf hinunter zum Meer. Der Bachlauf führt kein Wasser, ist aber tief eingegraben, von Felsen überfüllt. Können Sie sich daran erfreuen? Ich hoffe, Sie sehen, auch wenn Ihnen die Füße oder Seelenwindungen wehtun, wie schön der Oleander blüht. Natürlich, überall aus den Gesteinen hier unten sprüht der Oleander, das Rot verschiedentlich abgestuft, Lanzettblätter in kräftigem Grün. Oleander und safarigelbe Felsen salamandern eingeborgen am Schluchtgrund, ich möchte die Augen schließen, mir tut alles weh. Aber der Mann läuft voran, preist die Sprungkraft der Knie, sieht aus den Augenwinkeln nach, ob ich die Steilstellen hinabsteigen kann. Einmal läßt er sich hinreißen, reicht mir die Hand, ich sage nichts von Arthrose und Hüfte und Gelenkskopfgeschrei. Er läuft wieder voraus, um mir die verschiedenen Knochen zu zeigen: einen Ziegenschädel mit abgebrochenen Hörnern und ausgehöhlten Augen unter den porösen Höhlen des Karstes. Oder hier, der Schenkelknochen eines Schweines? Müll kommt von oben herab: So habe ich das Dorf gefunden, vor Jahren, sagt er: Ich stieg vom Meer das Bachbett hinauf, traf auf den Müll, durch den Müll auf die Straße, von dort auf das Dorf. Das Meer, das war es, was wir erreichen wollten, ich möchte den Müll nicht näher untersuchen, ich möchte weiter, hinunter zum Meer. Hier könnte man gut kochen, sage ich: Thymian in stacheligen Hügeln, Salbei, hell, und blau blühender Oregano. Verkohlte Baumstrünke, -hälften und -schalen sind aufgedeckt, es ist trocken, steingeschützt für ein Feuer, eine Küche mit herbem und bestärkendem Duft. Eine Tomatensauce, spinne ich weiter, oder mit Rosmarinzweigen gegrillter Fisch ...

Sie haben doch nicht etwa Hunger? fragt der Mann streng, und ich bin weiterhin bemüht, meine elastischen Knie zu biegen, wie eine wilde Ziege zu sein. Nehmen Sie eigentlich wahr, fragt der Mann, was um Sie herum wirklich ist? Ich blicke wild um mich: Doch! rufe ich, diese offenbar von Menschen aufgeschichteten Steinhügel und -türmchen sind sehr interessant!

Ja, er ist zufrieden und lächelt: Das haben Sie also bemerkt. Was halten Sie davon?

Türmchen, Pagoden aus aufgeschichteten Steinen, nicht groß, oft sind nur drei oder fünf flache Kiesel übereinandergelegt. Wegweiser? Markierungszeichen von Wanderern für andere?

Da wären Sie schon längst abgestürzt! lacht der Mann, das hat doch keine Linie! Das beschreibt doch keinen Pfad! Oft stehen zwei Haufen links und rechts vor einem steileren Abgrund! Nein, ich sage Ihnen, was das ist, sind Sie schon in der Mongolei oder in Tibet gewesen? Es gibt wohl im Menschen einen Drang, in einsamen Landschaften Steine aufzuhäufen. Jedenfalls, in der Mongolei gibt es die Owoos, Steinhaufen, die man den Ortsgottheiten errichtet. Wenn Sie dort mit dem Jeep fahren, und irgendwo in der Steppe tut sich ein Owoo auf, ich sage Ihnen, der Fahrer wird das Steuer herumreißen, er wird die Reifen in den Schlamm stemmen und stehenbleiben, er kann ohne Huldigung der Gottheit keinesfalls weiterfahren. Dann geht er dreimal im Uhrzeigersinn um den Owoo herum, und Sie versuchen, nicht auf die Uhr zu blicken, was müssen Sie heute schon noch erreichen, eine zürnende Göttin kann Sie vielleicht mehr kosten als Zeit. Dann geht der Fahrer suchend herum und hebt in gebührender Entfernung des Owoos einen Stein auf, den er auf diesen legt, zusammen mit einem persönlichen Gegenstand, einem Geldschein, einer Münze, einer Colaflasche  ich sage Ihnen, je näher man der Zivilisation kommt, desto mehr sehen diese Owoos wie Müllhalden aus  sogar von Autoreifen geziert sind sie in der Nähe der Hauptstadt. Und dann gibt es die Owoos, deren Götter Knochenopfer fordern, da liegen dann Widderschädel, schaurige Gebeine, und für den Pferdekopfgott werden Pferdeschädel auf die Steine getürmt. Jedenfalls, Sie finden das überall in diesem Teil Asiens, ja sogar in den Alpen habe ich ähnliche Steinhaufen gesehen, und ich denke, es gibt im Menschen eben einen Drang, diese Steineinsamkeiten zu ordnen, ein beruhigendes Zeichen zu setzen darin.

Das, breitet er die Arme aus, ist nun das Oleanderdelta, und tatsächlich, Sanddünen drängen sich zwischen die Büsche, und dahinter schwebt das Meer.

Die Küste führt uns zurück oder weiter, und ich sehe: die Küstenfelsen sind nicht aus dem Meer gewachsen, sie sind von den Bergen ins Wasser gestürzt. Ich sehe, wie eine Möwe im Aufwind segelt: den Kopf wendend, ganz unabhängig vom schwebenden Körper, als blickte sie von einem Flugzeug herab. Ich sehe eine biblische Szene: das Wetter über verletzten Dörfern, der bröckelnde Abhang, lotrecht, über dem Frauen und Töchter zu Landzeichen erstarren; die sandigen Wege durch Wüsten, an einem geschichteten Canyon vorbei. Ein Steinhügel ragt auf, versehen mit Splittern und Fetzen, ich gehe dreimal auf Abzweigungssuche herum.


Bettina Baláka, 1966 in Salzburg geboren, studierte Englisch und Italienisch und lebt nach mehreren Auslandsaufenthalten (England, USA) in Wien. Für ihre Werke erhielt sie neben mehreren Stipendien auch den Rauriser Förderpreis, den Alfred Gesswein-Preis für Lyrik, den Förderpreis der Stadt Wien und den Preis für Kurzprosa der Akademie Graz, den Meta-Merz-Preis, den Literaturpreis "freies lesen" und den Österreich 1 Essay-Preis.
Die Netzseite der Autorin finden Sie hier...

Den Erzählband "Unter Jägern" können Sie hier bestellen.