Leseprobe:

..., Anas Lächeln rankt sich ums Telefon
    - Ich weiß nicht
    im Tonfall von jemandem, der einen fremden Schlaf schläft
    - Und das wo dein armer Vater in der Klinik liegt Ana Maria noch mehr Geflüster, noch mehr Gekicher, noch mehr Träume, die nicht ihr gehörten, Maria Clara
    ich glaube, dass sie Maria Clara heißt, dass ich Maria Clara heiße, ich heiße Maria Clara, so wie du Leopoldina heißt und in Alcoitão wohnst und hier bist
    Maria Clara steigt, nachdem sie aus der Klinik zurück ist, zum Dachboden hinauf, dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, nicht einmal, zweimal, als wenn jemand vor mir
    Verzeihung
    als wenn jemand vor ihr
    meine Mutter, die verwaiste Enkelin, eines der Dienstmädchen Maria Clara sucht mich in den Truhen und in den Kisten, nimmt Zeitungen auseinander, stolpert über das Foto im zerrissenen Portemonnaie, entziffert mich auf der Ungenauigkeit der Zeit, auf der ein Fingerabdruck und ein Tintenstrich, auf der ich ihrem Vater ähnlich sehe
    auf dem Leopoldina meinem Vater ähnlich sieht
    und der Arzt
    - Ihre Tochter mein Freund begrüßen Sie denn Ihre Tochter nicht?
    der Mann mit der Zigarette ebenfalls auf dem abgewetzten kleinen Foto, jemand hat das Fotopapier mit einer Klinge oder einem Messer zerschnitten, und wenn ich sage, jemand hat es zerschnitten, dann denke ich dabei an den Lehrer oder an die Kranke oder an Leopoldina oder an mich
    ich habe das Fotopapier mit einer Klinge oder einem Messer zerschnitten
    jemand hat das Fotopapier mit einer Klinge oder einem Messer zerschnitten und sie allein zurückgelassen, an der geschwungenen Linie des Ohres hebt sich ein Ohrring ab, der, den wir gesucht hatten
    - Hast du dir mal überlegt was passiert wenn ich ohne den Ohrring nach Hause komme?
    unter dem Kopfkissen, auf dem Fussboden, im Schuh, wenn wir nicht mit dem Ohrring herunterkommen, wenn ich ihn nicht im Ohr habe, würde es Ana noch vor meiner Mutter bemerken, und die Fragerei in Ecken und Winkeln
    - Wer ist es wer ist es sag mir seinen Namen Clarinha
    ein merkwürdiger Gesichtsausdruck, mich fragend umdrehen und meinen Vater auf der Türschwelle sehen, Anas zehn Hände vor ihrem Mund, ich hätte sie am liebsten umgebracht, mein Vater, der wieder ging, und das Arbeitszimmer, das sich schloss, zum dritten- oder viertenmal der leichte Schlag auf den Türknauf, und er und ich auf Knien schütteln die Laken, prüfen jeden einzelnen Knoten im Holz, jedes Lackblitzen, jede Ritze in den Dielen, der Türknopf endgültig, autoritär
    - Eine Minute
    wie soll ich mich so anziehen, die Haken in die Ösen kriegen, das Haar wellen, wo doch die Bürste zittert, wenn mein Großvater das wüsste
    - Dein Ohrring Leopoldina?
    wenn meine Mutter beim Abendessen, anfangs zerstreut und dann aufmerksam, mit riesigen Augenbrauen in den Quadraten der Brille den Schellfisch vergisst
    - Dein Ohrring Maria Clara?
    schreib mir nie wieder, hör damit auf, wenn du von der Klinik zurückkommst, auf den Dachboden zu steigen, nur einmal den Schlüssel umdrehen, und die Laube im Garten, die quadratischen Brillengläser, dein Ohrring Maria Clara
    - Dein Ohrring Maria Clara
    der Ohrring auf dem kleinen Foto im Portemonnaie trotz der Fingerabdrücke, der Tintenstriche, der Ungenauigkeit der Jahre, einer dieser Silberkreise von einem fahrenden Goldschmied, und der Schmetterling auf der anderen Seite ist nicht aus Silber, aus Blech, macht mir Allergien und tut mir auf der Haut weh, ein weiteres Paar aus Koralle in einer Streichholzschachtel mit einem roten Schleifchen, auf der Klassenreise nach Marokko gekauft, Ana mit einer mitleidigen Grimasse, für die ich sie hätte erwürgen können
    - Du siehst wie ein Dienstmädchen aus echt peinlich
    auf dem kleinen Foto doch der kleine Silberkreis, doch an meinem Ohr, die zehn Hände meiner Schwester, nunmehr nur noch zwei, die Angestellte, die Adelaide ersetzt hatte, servierte weiter, der Herr General und der Präsident Krüger debattierten, sich nicht um mich kümmernd, über Mosambik, es kam mir so vor, als hielte mein Vater am Kopf des Tisches anstatt des Bestecks einen Ballon oder ein Plastiksaxophon, so wie es mir auch vorkam, als würde ihn eine Stehlampe mit einem Schirm aus Pergamentimitat schräg bescheinen, als ich das Foto wieder wegsteckte, bewegte das Holzpferd seine schlecht angemalten Züge vor und zurück, als säße jemand
    wer?
    auf dem Holzsattel, das Erschaudern der Mähne, die schiefen Beine drohten zu zerbrechen, die verwaiste Enkelin, dachte ich, mein Vater als Kind, dachte ich, oder eine Laune der Gegenstände wie das Knacken der Möbel am Nachmittag, dennoch bewegte sich das Holzpferd auf dem Dachboden vor und zurück, als säße jemand
    wer?
auf dem Holzsattel, meine Mutter konnte es nicht sein, auch nicht meine Schwester, auch nicht der Arzt, auch nicht die Krankenschwestern in der Klinik, irgend etwas, das sich veränderte, ohne dass mich das Gleichgewicht des Hauses kümmerte, und da, ein enges Zimmer, eine verchromte Sphinx, der Waschtrog auf dem verglasten Balkon, und da ein Alter mit Kreideflecken am Rockaufschlag, ein Alter und ein Mädchen in meinem Alter, in Maria Claras Alter, mit gestopfter Bluse und zwei Silberohrringen, sechs Uhr in Alcoitão, die Turteltauben flogen von den Kiefern auf, suchten einen Windhauch, der ihnen bis nach Sintra half, und mein Vater bewegte sich auf dem Holzsattel vor und zurück, während wir zur Decke schauten, ein leises Geräusch hörten, es konnten die Levkojen ein, es konnten die Eschen sein, wir beschlossen
    - Das sind die Eschen
    und da es nun einmal die Eschen waren, vergaßen wir ihn.

...

Aus: António Lobo Antunes: "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"

Aus "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"
von António Lobo Antunes /
Luchte

rhand Literaturverlag 2001