Karl Heinz Ritschel: "Legende Venedig. Porträt einer Stadt"

Ein unvergessliches Porträt der Serenissima

"Venezia deve vivere! - Venedig muss leben!"



(Motto der Gemeindeverwaltung Venedigs)


Ob nun an Kunst, Folklore, Geschichte oder Legenden interessiert, jeder Leser - der Reisefreudige wie der aller Hektik Entsagende - wird sich bei Karl Heinz Ritschels neuestem Venedigbuch angesprochen und in seinen Erwartungen auf das Vorzüglichste bedient fühlen. Und wer nach dieser glanzvollen Lektüre sodann gar beschließt, vielleicht erstmals in seinem Leben, Venedig zu besuchen, wird eine ihm nun bereits vertraute Welt vorfinden, über die er wohl - dank Ritschel - mehr zu berichten weiß, als ein durchschnittlicher Venezianer oder ein nur mittelmäßig begabter Fremdenführer dies jemals vermöchte. Die museale Pracht dieser auf, in den Meeresgrund eingerammten, Pfählen errichteten Lagunenstadt mag dann zwar immer noch betören und ihr allgegenwärtiger Fäulnisgeruch jedes verfeinerte Geschmacksempfinden irritieren, doch wird der belesene Besucher sich nicht in dem allen Sinn überflutenden Gewirr erlesener Köstlichkeiten verlieren, sondern souverän genießen, was zum Genuss sich so üppig darbietet.

Ritschel zeichnet ein Venedig von ungebrochener Vitalität, in dem Gegenwart und Vergangenheit beständig ineinander fließen, gespeist aus einem überquellenden Fundus von heiteren, amourösen und abenteuerlichen Geschichten, deren manche verbürgte Historie, andere wiederum nur Legende sind. Unbezweifelbar ist die einstige militärische und wirtschaftliche Machtstellung der ehemaligen Adelsrepublik Seevenetien, die am Höhepunkt ihrer Machtentfaltung, am Beginn des 16. Jahrhunderts, weite Gebiete im Südosten Europas (Kroatien, Albanien, Griechenland) unter ihre Gewalt gebracht hatte, die alte oströmische Weltmetropole Byzanz kontrollierte, Herr über die griechische Inselwelt war (darunter Zypern, Kreta und Rhodos) und insbesondere den äußerst lukrativen Osthandel mit Asien monopolartig beherrschte. Mächtige Geschwader aus Kriegsgaleeren, bemannt mit den besten und teuersten Söldnern jener Zeit, sicherten einen regen Handel zur See, welcher dem kleinen Völkchen von etwa 135.000 Venezianern (heute zählt die Stadt gerade noch rund 66.000 Einwohner) einen sagenhaften Reichtum bescherte. Eine Oligarchie von Geldadeligen thronte über dem maritimen Stadtstaat und schränkte die Befugnisse des aus ihrer Mitte gewählten Dogen auf mehr oder minder repräsentative Zuständigkeiten ein. Alle Versuche, das dynastische Prinzip der Erbmonarchie auch in Venedig einzuführen, mündeten in mörderischen Aufruhr, wurden vereitelt noch bevor sie zur Entfaltung gelangten. Dem erlauchten Kreis städtischer Adeliger gehörten all jene an, die es als Kaufleute zu Reichtum gebracht hatten, die sich folglich in den Stand der Edlen einkaufen konnten, und derer gab es schlussendlich nicht wenige in diesem "parasitären Staat von Krämern, Wucherern und Zwischenhändlern", wie es der pensionierte k.u.k. Linienschiffskapitän Max von Rottauscher in seinen Memoiren sinngemäß zum Ausdruck brachte. Das einfache Volk der Venezianer war zwar ohne Mitbestimmungsrechte, doch ließ man es wohlleben; sprich, des sozialen Friedens wegen am überbordenden Reichtum der Krämerrepublik teilhaben.

Die imperiale Aura der ehemaligen Handelsmacht Venedig ist bis in unsere Tage längst einer melancholischen Gestimmtheit gewichen. Nach der Entdeckung Amerikas und des Seewegs zu den asiatischen Handelsplätzen verlor das venezianische Handelsimperium sukzessive an Bedeutung, brach schlussendlich in sich zusammen, und alles was von dem einst stolzen Venedig der Nachwelt verblieb, ist eine heute im Meeresschlamm versinkende Stadt, was zwar schon seit längerem keineswegs mehr stimmt, aber doch irgendwie zum morbiden Stimmungsbild verfallender Größe und Schönheit passt. Das Schöne und Ruchlose muss untergehen, denn Venedig war immer gleichermaßen schön wie sündig. Hier wurden nicht nur die schönen Künste sondern ebenso die Künste der Schönen - die Liebeskünste der Kurtisanen - von Staats wegen gefördert, wie denn es unter edlen Damen auch als chic galt in Begleitung eines Liebhabers auszugehen und man im Allgemeinen ganz ungeniert einer lustorientierten Unmoral frönte, wofür man dem himmlischen Herren im Gotteshaus schon einmal ein Dankgebet darbrachte.

Ritschels Venedig ist ein in seiner Darstellung überzeugendes, immerwährendes Bekenntnis zum mitunter lästerlichen und oftmals sündigen Lebensgenuss, frei von aller Frömmelei und Engstirnigkeit, denn wenn man Häresie auch nicht in jeder Hinsicht duldete, hier entflammten niemals die Scheiterhaufen der römischen Inquisition. Und wenn auch das Judengetto eine venezianische Erfindung des Jahres 1516 ist - erst die Truppen der französischen Revolution unter Führung Napoleons brachten den Juden im Jahre 1797 ihre langersehnte Freiheit und Gleichberechtigung - so ließ man den Juden als geschickten Geschäftspartner doch gerne gewähren. Liberalität erwuchs hier nicht primär aus einer freisinnigen Geisteshaltung, sondern viel mehr aus dem Geist einer kaufmännischen Gesittung, der allemal recht war, was dem Profit dienlich schien.

Ritschel betont, dass die Stadt Venedig ihre einzigartige Faszination nicht nur ihrer exponierten Lage, ihrer Architektur und Kunst, sondern insbesondere ihren Menschen verdankt, deren prominenteste der Kosmopolit Marco Polo (1254-1324), der Mozart-Librettist Lorenzo Da Ponte (1749-1838) und nicht zuletzt der Abenteurer Giacomo Casanova (1725-1798) sind. Einem jeden von den Dreien ist ein eigenes Kapitel gewidmet, wobei Ritschel in Erinnerung ruft, dass etwa Casanova nicht nur ein begnadeter Verführer und Liebhaber des weiblichen Geschlechts war, sondern vor allem ein Schriftsteller und Denker von hohem Rang. Und zudem war Casanova, so wie Da Ponte, ein aufrührerischer Freigeist, dessen Verbundenheit mit dem Geist der Aufklärung die dann doch nicht so freisinnige Obrigkeit zuweilen auf das Heftigste erzürnte. 1755 wurde Casanova wegen seiner Beschäftigung mit den okkulten Dingen, wegen Frevels gegen die Religion, wegen des Vorwurfs der Unzucht und wegen Freimaurerei sodann auch zu drei Jahren Kerkerhaft in den so genannten "Bleikammern" des Dogenpalastes verurteilt. Die sensationelle Flucht des Unbotmäßigen aus den "Bleikammern" machte Casanova in weiterer Folge weltberühmt. Heute ist sein Name ein gängiges Synonym für Frauenhelden, doch könnte man mit ebensolcher Berechtigung einen jeden wahren Bücherfreund einen "Casanova" nennen, denn Casanova vermachte der Nachwelt ein großartiges literarisches Erbe.

"Meine Lebensgeschichte ist die eines Junggesellen dessen Hauptbeschäftigung darin bestand, die Freuden seiner Sinne zu pflegen!", schrieb einst der Venezianer Giacomo Casanova in seinen Lebenserinnerungen. Ein Lebensmotto, das wohl ganz allgemein auf den sinnlichen Charakter Venedigs anwendbar ist und sich nicht zuletzt in den Tafelfreuden venezianischer Küche manifestiert. Das Schöne und der Genuss sind die sinnlichen Merkmale venezianischer Wesensart, worum sich märchenhafte Legenden ranken. Und in der Tat, Venedig selbst ist eine einzige Legende, ein Stadt gewordenes Zaubermärchen, mehr orientalisch denn italienisch, dem die Ehre zu erweisen es gewiss eines großen Stilisten wie Karl Heinz Ritschel bedarf.

"Legende Venedig" ist ein hinreißendes Buch, voll der Poesie, einladender Bilder und zweckdienlicher Hinweise für Kulturreisende. Und wer die Mühsal des Reisens für sich persönlich verabscheut, wird doch an den kulturhistorischen Details, an den spannend dargebrachten Erzählungen zu wirklichen oder doch eher nur fantastischen Begebenheiten aus der Geschichte dieser Stadt, wie schlussendlich an den fachkundigen Ausführungen zur Architektur und Folklore Venedigs seine wahre Freude haben.

Prof. Dr. phil. Karl Heinz Ritschel wurde 1930 in Oberaltstadt im Riesengebirge geboren. Er lebte 40 Jahre lang in Salzburg, wo er von 1964 bis 1965 Chefredakteur der "Salzburger Nachrichten" war. Er ist Mitglied des P.E.N.-Clubs und hat zahlreiche Preise, Ehrungen und Auszeichnungen für seine schriftstellerische Tätigkeit erhalten.

(Harald Schulz; 05/2003)


Karl Heinz Ritschel: "Legende Venedig. Porträt einer Stadt"
Otto Müller Verlag, 2003. ca. 330 Seiten.
ISBN
3-7013-1066-1.
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