Henner Löffler: "Doderer - ABC. Ein Lexikon für Heimitisten"


Schon am Anfang steht ein grimmiges Ärgernis: Ein Anhänger Maos ist ein Maoist, eine weitverbreitete asiatische Religion heißt Taoismus, und erst dann, wenn man Fidels Anhänger als "Castristen" bezeichnen wird, werde ich mich mit der Bezeichnung "Heimitist" anfreunden können. Bis dahin möge man aber bitte syntaktisch korrekt von "HeimitOisten" und vom "HeimitOismus" sprechen und auch gemäß dieser edlen Geistesrichtung handeln.

Womit wir uns schon inmitten Henner Löfflers Doderer-Buch befänden. Doch ganz im Sinne angewandten Heimitoismusses (ob das jetzt ganz korrekt war?), der ja bei aller Abgründigkeit eine zumindest (dabei gar nicht nur) vordergründige Liebenswürdigkeit praktiziert, wollen wir uns zunächst den positiven Seiten zuwenden. Da wäre einmal die äußerst lobenswerte statistische Auflistung von in den Dodererschen Werken vorkommenden Farben, Straftaten, Zitaten, Personen, sowie anderen Fakten, Daten, Zahlen zu erwähnen. Manchem Leser, der vermeint, dass ihm dies als allzu trocken aufstieße, muss hier wohl eine strenge Rüge aufgrund mangelnder Ernsthaftigkeit erteilt werden: Tabellarische Akribie, archivarischer Fleiß und beamtische Pedanterie sind in Wahrheit erzheimitoistische Tugenden, womit man Henner Löffler wenigstens zugute halten muss, dass er dem Heimitoismus nicht gänzlich fernsteht, dass er zu jenen gehört, die "einen Ansatz dazu schon besitzen und mitbringen, der dann nur mehr einer gewissen Entwicklung bedarf". Des weiteren positiv erscheint neben der auf diese Art - also durch alphabetisch geordnete Stichwörter (ein schon an sich originelles, durchaus heimitoistisches Unterfangen) - vermittelten enormen Informationsfülle deren durchaus heimitoistische Genauigkeit und Prägnanz, sowie stilistische Sicherheit.

Mit obigem Zitat über Ansatz und Entwicklung sind wir nun wirklich in medias res gelangt, und zwar inmitten (oder vielmehr: ans Ende) der Kurzgeschichte "Trethofen", einer Geschichte geradezu symptomatisch für den späten Doderer, der auch in Löfflers Lexikon nicht nur ein eigenes Stichwort gewidmet ist, sondern auch zentrale Bedeutung zu kommt, zumal sie Löffler direkt auf das Glatteis der Politik (ver)führt. Dabei beginnt Löffler dieses für ihn so heikle Thema gar nicht schlecht: Unter dem Stichwort "politischer Schriftsteller" ist als letzter Satz zu lesen: "Doderer war ein unpolitischer Schriftsteller par excellence", womit Löffler zweifellos so ganz unrecht nicht hat. Dass dies in Doderers Intentionen lag, wäre leicht durch Beachtung des in die Erzählung "Die Lerche" eingearbeiteten (und nicht nur unwidersprochen gebliebenen, sondern sogar ausdrücklich gelobten) Zitats Franz Bleis: "Das Politische ist die letzte, die böseste Verflachung des Menschen" zu erkennen gewesen. Sei's drum. Doch Löffler, gelernter, geschichtsbewusster Bundesbürger, muss eben darum diese Einstellung ablehnen, denn wie kann man angesichts des Begriffs "political correctness" ("kein Buch ohne englische Redewendungen", wie Löfflers Untersuchungen zum Thema "England" ergeben haben, als Politisch-Korrekter kann er selbstverständlich Doderers Anglophilie nicht auf dessen notorische Skurrilität zurückführen), der eben eine klare politische Stellungnahme impliziert, unpolitisch sein und bleiben?

Nun leidet Löffler unter dieser schwerwiegenden Unzulänglichkeit seines Idols, wird manchmal richtig grob ("Mir scheint die politische Dummheit die gefährlichere zu sein, wofür Doderer gut als Beispiel dienen kann."), gleich darauf resignativ ("Ein bisschen klarer hätte sich Doderer in diesen Fragen schon ausdrücken können. Es würde helfen, sein Versagen in einen Kontext zu stellen.", beide Zitate fallen im Rahmen des Stichwortes "Dummheit"), geht jedoch manchmal doch ein bisserl zu weit ("Ich sehe aber hier ... vor allem seine politische Dummheit ... am Werk", S. 215). Da ist Löffler in kulturellen Fragen noch weit nachsichtiger, wenn er auch hier seine Missbilligung über Doderers offensichtlichem Desinteresse an zeitgenössischer Musik und Filmkunst nicht hinter dem Berg hält, die er ungefähr daraus ableitet, dass keine Doderersche Figur beim legendären "Watschenkonzert" (anlässlich der Uraufführungen von Werken der sogenannten Zweiten Wiener Schule war es zu durchaus Dodererschen Eskalationen gekommen) zugegen war. Dabei hätte es dem Amtsrat Julius Zihal (siehe "Zihalismus") durchaus gut gestanden, über die Totalität in der Vorformung des dodekaphonischen Materials, die ja laut Adorno jede sichtbare thematische Arbeit selbst als Tautologie erscheinen lasse, zu sinnieren, zumindest hätte dies Zihal die Verunglimpfungen, die ihm seitens Löffler auf den letzten Seiten widerfuhren, erspart - doch davon später.

Zurück zur Politik: Nur einmal unternimmt Löffler einen Versuch, geradezu erfüllt von latentem Verdrängungswunsche, Doderer gute politische Absichten zu unterstellen, und zwar eben in seiner Besprechung von "Trethofen", wobei er natürlich Schiffbruch erleiden muss (dass ein diesbezüglicher Hinweis vom renommierten Doderer-Experten Schmidt-Dengler gekommen sein soll, erscheint nahezu unfassbar). Trethofen ist nichts anderes als eine Fortsetzung der in Doderers Werken (vgl. vor allem andere Kurz- und Kürzestgeschichten, "Die Merowinger" u.a.) eben üblichen "Brachialitäten" (siehe dort), mit denen Löffler seine liebe Not hat, wie folgende Schlussanmerkung zu diesem Thema verrät: "Insgesamt spielen ..... Brachialitäten bei Doderer eine nicht unbeträchtliche Rolle. Er weiß, dass sie Schwäche und Erkenntnismangel verraten, .... aber er sieht sie als Teil der Wirklichkeit ... Dass er sie dann als solche relativ akzeptiert, ... ist einmal mehr typisch für die Kapitulation des Dichters vor den Ansprüchen seiner Sprachbesessenheit."

Nein, so billig geht es nicht, Herr pt Löffler. Doderersche Sprachbesessenheit ist etwas anderes als inhaltsleere Geschwätzigkeit um ihrer selbst willen. Da muss man schon mehr über die Ambivalenzen im Herzen jedes besseren Wieners wissen. Sanfte Gewalt, liebenswürdige Bosheit, bourgeoiser Anarchismus, sadistische Zärtlichkeit, Dialektik zwischen skeptischer Überkultiviertheit und barbarischem Primitivismus - das sind eben typisch wienerische Erscheinungen (kein Wunder, dass die Redewendungen von der "gesunden Watschen" oder von der "Hetz" hierorts aufkamen), wie immer man zu ihnen steht, man hat sie als eben unbestreitbaren Teil der Wiener Wirklichkeit zu akzeptieren. "Trethofen" ist also eine völlig unpolitische Erzählung ohne ausgesprochene Stellungnahme schon gar nicht politischer Natur- ob der Leser den Ich-Erzähler oder die Dorfbewohner nun sympathisch findet (was ihm immerhin beinahe suggeriert wird) oder nicht, bleibt ihm allein überlassen.

Das Stichwort "Juden", unter welchem Doderer weitestgehend vom Vorwurf des Antisemitismus (zurecht) freigesprochen wird, wenngleich ihm eine Bezeichnung einer gewissen Malik als "galizianische Megäre" übel bekommt ("politische Dummheit, geradezu Naivität") beinhaltet einen in der Tat interessanten Aspekt, nämlich den "Vorwurf, Frauen kämen bei Doderer schlecht weg". Erneut der Vorwurf politischer Unkorrektheit also, mit dem Unterschied jedoch, dass Löfflers politisch-korrekte Wachsamkeit in diesem Punkt zu wünschen übrig lässt. Löfflers Aussage: "Eine solche Einstellung ist an keinem Punkte der Prosa festzumachen" erscheint völlig unhaltbar. Löfflers akribisch-statistische Methode, die beim Thema "Antisemitismus" noch gute Dienste geleistet hat, versagt hier: Da es (vom heutigen Israel natürlich abgesehen) ungleich mehr Frauen als Juden gibt, Frauen also den "Normalfall" und keineswegs eine durch handelnde Personen repräsentativ vertretbare "Minderheit" bilden, fallen Löfflers aufgezählte "positive" Frauengestalten nicht ins Gewicht - Doderer war natürlich kein plumper Chauvinist oder gar Sexist, der solche Frauenrollen von vorneherein ausschloss - und sind überdies so unproblematisch nicht: So ist etwa Doderers Lob für Emma Drobil in "Die Dämonen" ("böhmische Vernünftigkeit", überhaupt im Zusammenhang mit Williams' Philosophie über die Schöpfung) als zweischneidiges, ganz und gar nicht ungiftiges Kompliment anzusehen, denn "Vernünftigkeit" ist - noch in höherem Maße als "Vernunft" - keinesfalls als heimitoistische Tugend anzusehen. Entscheidend ist vielmehr, dass etwa die zum Teil umfangreichen Erzählungen "Das letzte Abenteuer" und "Ein anderer Kratki-Baschik" die Selbstbefreiung des Mannes von den Ansprüchen und Anforderungen eines anmaßenden Weibes zum zentralen Hauptthema haben. Einzelne Frauen kommen - an durchaus entscheidender Stelle - auch "schlecht weg" in den Romanen "Ein Mord, den jeder begeht" (die Ehegattin der Hauptperson Castiletz) und "Die Wasserfälle von Slunj" (wenn auch Doderer hiebei scheinbar neutral bleibt, so lässt er doch in der Semmering-Episode die Anteilnahmelosigkeit Harriets an der Begeisterung Roberts für die Semmeringbahn in weiterer Folge zu einer Entfremdung zwischen den Ehegatten führen, sozusagen -natürlich unausgesprochen - als Folge der Geist- und Interesselosigkeit der Ehefrau), in den Kurzgeschichten "Eine Person aus Porzellan", "Wechselnde Beleuchtung", "Im Irrgarten", in denen immer wieder geistige Einwände gegen die biologische Notwendigkeit des Mannes, eine Frau sexuell zu begehren - wenn auch verklausuliert, so doch umso stringenter - formuliert werden.

Den Gipfelpunkt leistet sich Löffler im letzten von ihm aufgenommenen Stichwort, das "Zihalismus" lautet, benannt nach dem ehrbaren Amtsrat im k u k Zentral-Tax- und -Gebühren-Bemessungsamt aus dem Roman "Die erleuchteten Fenster...", der auch noch in der "Strudelhofstiege" auftrittt. Als zihalistisches Verhalten definiert Löffler "Wichtigtuerei, amtliches Getue, Gespreiztheit, Aufbauen einer in sich schlüssigen geordneten Welt ohne wechselhaften Bezug zur Umwelt. Dazu gesellt sich adäquat eine Sprache, die sich durch einen hohen Grad an Umständlichkeit, Geschlossenheit und Aufgeblähtheit auszeichnet." Das schlägt nun wirklich dem Fass den Boden aus!

Mit dieser Schmähung des Zihalismus schmäht Löffler (noch über die von ihm richtig festgestellte Beeinflussung des Dichters durch seine Protagonisten hinaus) gleichsam den Heimitoismus an sich, denn der Zihalismus kann in seiner Bedeutung nur dann vollends gewürdigt werden, wenn man ihn als Grundwesenszug des Heimitoismus erkennt. Es erübrigt sich, diese Löfflersche Entgleisung zu widerlegen, zitiert dieser ja selbst Doderersche Schlüsselsätze, etwa wonach bei höherem Zihalismus Humanismus eine Selbstverständlichkeit sei, bzw. in denen der Zihalismus mit der barocken (für jeden wahren Heimitoisten natürlich der Gipfelpunkt jeglicher) Kultur konkludent gleichgesetzt wird; statt dessen sei an dieser Stelle ein auch im heimitoistischen Sinne zulässiger politischer Exkurs angebracht. Löfflers politisches Bestreben erschöpft sich in den zweifellos ehrenhaften Bemühungen, der trefflichste Antifaschist zu sein. An der Beschaffenheit der seit 1945 "geschaffenen" Welt hat er nichts auszusetzen. Anlässlich der Erwähnung des Semmerings (anlässlich des Stichworts "Raxalpe", dort fälschlich als "Berg" bezeichnet, doch dies können wir im Ciceroschen Sinne großzügig unerwähnt lassen) und anlässlich der Würdigung der Bedeutung dieser schönen Landschaft auf den Dichter erspart er sich ebenso jeglichen Verweis auf deren Zerstörung durch die von Ingenieursgesichtern errichtete Autobahnbrücke über Schottwien wie bei der Diskutierung des Zihalismus jegliche Würdigung des kulturellen Verdienstes der Beamtenschaft, deren zur Zeit durch außer Rand und Band geratene Betriebswissenschaftler inszenierte Vernichtung er ebenso keinerlei Erwähnung, geschweige denn Missbilligung für wert hält. Angesichts dieser trostlosen politischen Umstände wäre es geradezu die politische Pflicht jedes rechtschaffenen Autors gewesen, anstatt im Tonfall ordinärer Beamtenhatz den Zihalismus aller stereotypen verächtlichen und lächerlichen Eigenschaften zu zeihen, diesen als leuchtendes Vorbild dem moralisch völlig verrotteten Bürokratismus Brüsseler Provenienz gegenüberzustellen, dessen so gelobte moderne "Flexibilität" doch nur ein anderes Wort für Korrumpiertheit, Lobbyismus etc ist.

Spätestens hier drängt sich nun tatsächlich die Frage auf, ob denn Doderer tatsächlich ein so völlig unpolitischer Schriftsteller gewesen ist, zumal er derartige Entwicklungen vorausgeahnt und unmissverständlich gegeißelt hat. Am Ende ist Doderers Welt, ist der Heimitoismus doch etwas komplizierter, als wir, die wir an die Holzhammermethoden zeitgenössischer und vor allem -geistiger politischer Schriftsteller gewöhnt sind, die sich stets "ein bisschen klarer ausdrücken" und so dem zeitgeistigen Leser und Kritiker "helfen, ihr [oder anderer] Versagen in einen Kontext zu stellen", auf erstem Blick vermeinen.

Bei aller freundlichen Nachsicht, etwa der aufdringlichen, uneleganten (also völlig unheimitoistischen) Besserwisserei, der mitunter durchaus fundamentalen Irrtümer und Entgleisungen, die nicht nur "Trethofen" und den Zihalismus betreffen, oder vor allem der Schwierigkeiten, die Löffler im Zurandekommen mit Doderers feiner Klinge hat, verbleibt, zumal die eingangs erwähnte Informationsfülle doch einiges aufwiegt, dennoch ein nicht unlesenswertes Buch, das genügend Anregungen zur Vertiefung in den Heimitoismus bietet. Voraussetzung ist natürlich stets das kritische Hinterfragen, selbstverständlich ohnehin eine der Haupttugenden des Heimitoismus.

(Franz Lechner; 06/2002)


Henner Löffler: "Doderer - ABC. Ein Lexikon für Heimitisten"
Taschenbuch: dtv, 2001. 478 Seiten.
ISBN 3-4231-2932-8.
ca. EUR 19,50.
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Gebundene Ausgabe:
C. H. Beck, 2000. 478 Seiten.
ISBN 3-4064-6188-3.
ca. EUR 34,90.
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