Andrej Kurkow: "Picknick auf dem Eis"

Als Tagträumer hat es Viktor schwer in Kiew der Neureichen und der Mafia: ohne Geld und ohne Freundin lebt er mit dem Pinguin Mischa und schreibt unvollendete Romane für die Schublade. Zum Überleben verfasst er für eine große Tageszeitung Nekrologe über Berühmtheiten, die allerdings noch gar nicht gestorben sind. Wie jeder Autor möchte Viktor seine Texte auch veröffentlicht sehen. Ein Wunsch, der beängstigend schnell in Erfüllung geht ...


Viktor ist der Held dieser Geschichte, die - wie es bei Kurkow öfter vorkommt - in Kiew spielt, und die in ihrem Handlungsverlauf ähnliche Haken schlägt wie "Petrowitsch".

Viktor ist ein erfolgloser Schriftsteller, der es nie schafft, mehr als eine Seite zu schreiben, was als Form der Kürzestkurzgeschichte nicht wirklich verkäuflich ist. Außer gelegentlich an einige Zeitungen. Und damit kann man nicht übertrieben viel Geld verdienen. Geld, das man zum Beispiel braucht, wenn man nach der Räumung einiger Gehege des Kiewer Zoos einen Königspinguin namens Mischa als Mitbewohner hat.

Da erweist es sich als gut, dass der Redakteur der Kiewer "Hauptnachrichten" einen gewinnträchtigen Einfall hat: Viktor soll Nekrologe mit einer Länge von jeweils einer Seite über VIPs der russischen und ukrainischen Gesellschaft  schreiben, die noch am Leben sind, damit die Zeitung diese bei deren Ableben direkt vorliegen hat und drucken kann. Viktor kann sich diese Personen zunächst aus verschiedenen Publikationen selber heraussuchen und auch auf das Archiv der Zeitung zurückgreifen. Bei seinem ersten Werk interviewt er sogar die betreffende Person selbst. Doch zunächst werden seine Nekrologe - die auch nicht unter seinem Namen erscheinen sollen - nicht gedruckt, weil die von ihm beschriebenen Personen noch sehr lebendig sind.

Bis eines Tages ein Herr namens Mischa - wie der Pinguin - in Viktors Wohnung auftaucht, um einen Nekrolog bei ihm in Auftrag zu geben. Nachdem Viktor diesen Nachruf zur Zufriedenheit des Auftraggebers verfasst hat, fragt ihn dieser, welcher sein persönlicher Lieblingsnachruf sei. Ohne darüber nachzudenken, nennt Viktor jenen seines ehemaligen Interviewpartners. Dieser stürzt kurioserweise wenig später aus einem Fenster. Doch Viktor kann über diesen Todesfall nicht allzu lange nachdenken, weil er von seinem Redakteur in die Provinz geschickt wird, um dort Informationen von einem örtlichen Redakteur der Zeitung zu bekommen. Diesen trifft er allerdings nie, da der Redakteur von Unbekannten auf offener Straße erschossen wird. 
Unverrichteter Dinge kehrt Viktor nach Kiew zurück, um sich wieder um seinen Pinguin zu kümmern, auf den in der Zwischenzeit ein Polizist namens Sergej aufgepasst hat. Zwischen diesen beiden Männern entwickelt sich mit der Zeit so etwas wie Freundschaft, und nachdem "Mischa-nicht-der-Pinguin" Viktor nach einigen weiteren Todesfällen eines Tages besorgt seine Tochter Sonja anvertraut hat und selbst verschwunden ist - und sein Redakteur Viktor darüber informiert, dass es eine gute Idee wäre, für einige Zeit unterzutauchen - bezieht er für eine sehr russische Sylvesterfeier dessen Datscha, wo er auch Zeuge eines tödlichen Unfalls eines Einbrechers wird.

Zurück in Kiew entwickelt sich die Situation immer schneller, und Viktor bekommt jetzt Dossiers seiner "Opfer" direkt ins Haus geschickt. Auch wird er sehr bald nachdrücklich gebeten, diverse Beerdigungen mit "Mischa-dem-Pinguin" zu besuchen. "Mischa-nicht-der-Pinguin" ist - kurz nachdem er Viktor eine Pistole und eine Menge Geld für Sonja hatte zukommen lassen - getötet worden. Jeder dieser Auftritte bringt Viktor $ 1000 ein, was mit den $ 300 im Monat für seine Nekrologe eine ganz erträgliche Summe ergibt, wenn es ihn auch ein wenig stört, dass sein Pinguin mehr Geld verdient als er selbst. Durch Sergejs Hilfe kommt Nina, die eine Art Kindermädchen für Sonja wird und mit der Zeit auch so etwas wie eine Frau für Viktor, in sein Haus, sodass sich in seinem Haushalt eine seltsame Art von Familienleben entwickelt. Aber die Nekrologe und die Beerdigungen greifen Viktors Psyche mehr und mehr an, und auch Mischa kann mit den häufigen Ausflügen im nasskalten Kiewer Klima nicht so gut zurecht kommen, weswegen sich der Pinguin eine schwere Erkältung einfängt, die durch einen angeborenen Herzfehler noch kompliziert wird. Und wo findet man - noch dazu in Kiew - ein Spenderherz für einen Königspinguin!?

Die Situation wird immer verfahrener, während gleichzeitig ein Netz aus Gewalt sich immer enger um Viktors kleine Ersatzfamilie zusammenzieht, bis dieser schließlich selber den Weg eines Pinguins gehen muss ...

Während "Petrowitsch" allerlei mystische Elemente enthält, ist "Picknick auf dem Eis" sehr realistisch, was die beschriebenen Situationen betrifft, die aber irgendwie nicht ganz in der Realität verhaftet zu sein scheinen. Wie bei seinem anderen Roman ist auch hier der Held in vielerlei Hinsicht moralisch fragwürdig, aber gerade dadurch sicherlich umso interessanter. Das Gefühl, dass man hier wirklich ukrainische Literatur in der Hand hat, die mit viel osteuropäischer Seele, sehr viel Witz und Sinn für das Absurde des Lebens geschrieben wurde, lässt die Leserin und den Leser, bei aller Klischeehaftigkeit solcher Formeln, niemals los, und am Ende schlägt man das Buch mit einer amüsierten Nachdenklichkeit, die einen nach weiteren Titeln dieses Autors fahnden lässt, zu.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2003)


Andrej Kurkow: "Picknick auf dem Eis"
Aus dem Russischen von Christa Vogel.
(Originaltitel: "Smert  postoronnego")
Taschenbuch:
Diogenes, 2000. 288 Seiten. 
ISBN 3-257-23255-1.
ca. EUR 8,90.
Buch bestellen

Hörbuch:
(Sprecher: August Zirner)

Tacheles, 2002. 4 CDs, Laufzeit etwa 195 Minuten. 
ISBN 3-9361-8608-1.
ca. EUR 25,90.
Hörbuch bestellen