Michi Strausfeld (Hrsg.): "Cubanísimo!"

Junge Erzähler aus Kuba


Nach dem Zerfall der UdSSR und infolge der wegfallenden Finanzierung von sozialistischen Musterstaaten begann auf Kuba eine "besondere Zeit", in welcher der Mangel immer mehr um sich griff. Dieser Mangel betraf vor allen Dingen auch Papier, so dass der Roman als literarische Gattung für einige Jahre an Bedeutung verlor und die Kurzgeschichte wieder einen Aufschwung erfuhr. 1993, auf dem Höhepunkt dieser "Spezialperiode", erschien die erste Anthologie junger kubanischer Erzählerinnen und Erzähler, die seitdem immer neue Nachfolger erhielt.
Die vorliegende Sammlung enthält 24 Kurzgeschichten dieser Erzählerinnen und Erzähler, die alle nach 1959 geboren sind und zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die kubanische Anthologie noch auf der Insel lebten, was sie heute zum Teil nicht mehr tun.

Die Geschichten stammen von Zoé Valdés, Roberto Uría, Félix Lizzárraga, Rolando Sánchez Mejías, Alberto Guerra Naranjo, Adelaida Fernández de Juan, José Manuel Prieto, Eduardo del Llano, Mylene Fernández Pintado, Antonio José Ponte, David Mitrani, Alexis Díaz-Pimienta, Joel Cano, Jorge Luis Arzola, Ángel Santiesteban, Rodolfo Martinéz, Alberto Garrido, Ana Lidia Vega, José Miguel Sánchez, Karla Suárez, Pedro de Jesús, Daniel Díaz Mantilla, Ronaldo Menéndez Plasencio, Waldo Pérez Cino und Ena Lucía Portela. Einige der Namen sind in der literarischen Welt schon wohlbekannt, andere dürften der Leserschaft auf diesen Seiten zum ersten Mal begegnen.

Einige der Geschichten sind absolut "kubanisch" in dem Sinn, dass sie zügellosen - ja kopflosen - Sex unter unmöglichen Umständen in den Vordergrund rücken; ein Topos, der einen großen Teil der jüngeren kubanischen Literatur durchdringt und eher abstoßend als erotisierend wirkt. Wer aber den Eros mit kubanischen Geschichten verbindet, darf sich in hetero- wie homosexueller Hinsicht auf einige interessante und anregende Darstellungen freuen. Anders als bei Gutiérrez werden hier auch Haus- und Nutztiere in dieser Beziehung verschont. Tatsächlich kommt es in einer Geschichte - "Greenpeace" von del Llano - sogar zu einer interessanten Aktion zum Schutz von Tieren.

Einige der Geschichten sind fragmentarische Zusammensetzungen ("Geschichten von Olmo" von Mejías), andere eher lyrische Versuche als wirkliche Geschichten. Sehr häufig begegnen einem Ich-Erzählerinnen bzw. -Erzähler, die überaus eigene Sichtweisen des Lebens auf Kuba zum Besten geben. Prieto liefert sogar ein Beispiel einer "Enzyklopädie des Lebens in Russland", das die Auslandserfahrung des Kubaners im "sozialistischen Mutterland" ebenso persönlich wie eindringlich darstellt.

Ein sehr wichtiger Aspekt ist der Umgang des Kubaners mit von außen Kommenden, wie den Touristen (Valdés, "Eine Jugend in Alt-Havanna", Sánchez (Yoss), "Eine erfrischend gute Sache") und wiederkehrenden Emigranten, wie in Plasencios "Eine Metropole, ein Vogel, ein Omnibus ...".
Der einzige wichtige Gesichtspunkt des kubanischen Lebens, der bei "neueren" Autoren immer wieder erwähnt wird, in dieser Sammlung jedoch keine Berücksichtigung findet, ist der Santéria-Kult.
Ansonsten kann man sagen, dass diese Anthologie thematisch und stilistisch eigentlich jeden Geschmack bedient, wobei man nicht unbedingt über besonderes Interesse für Kuba verfügen muss, um an den Geschichten Gefallen zu finden - wenngleich das hilft.
"Cubanísimo!" ist jedenfalls eine Sammlung von zum Teil sehr ansprechenden Geschichten.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2007)


Michi Strausfeld (Hrsg.): "Cubanísimo!"
Suhrkamp, 2000. 331 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

José Manuel Prieto: "Rex"

Hauslehrer in der Luxusvilla einer russischen Familie in Marbella - nach langen Jahren in Russland sieht der junge Kubaner J. seine Chance gekommen, wieder in Richtung Süden zu wandern, auf der Suche nach dem verlorenen Meer. Aber wer sind die Hausherren Wassili und Nelly? Woher kommt ihr fantastisches Vermögen? Wie weit kann er der schönen Nelly trauen? Als Nelly ihm zum Lohn für die ersten Wochen einen funkelnden Diamanten in die Hand legt, keimt in J. der Verdacht, der Reichtum des Hauses könne daher rühren, dass Wassili der russischen Mafia angehört. Spricht nicht alles in diesem Haus eine doppelte Sprache? Verlässliche Antwort findet er allein in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", für ihn "das Buch" schlechthin (eine Kristallkugel freilich, in der ihm die gesamte Literatur zu Hilfe eilt). J. begibt sich in ein Labyrinth aus Wirklichkeit und Vorstellung: Was wie ein echter Diamant funkelte, erweist sich als geniale Fälschung; die Hausherren, die er für Mafiosi hielt, entpuppen sich als Gejagte. Da hilft J. nur ein Blick in das Orakel seines Buchs und die Flucht nach vorn: Wassili muss als neuer Zar Russlands ausgerufen werden.
José Manuel Prieto, 1962 in Havanna geboren, studierte Ingenieurwissenschaften in Nowosibirsk in der ehemaligen UdSSR, wo er nach dem Diplom weitere zwölf Jahre lebte und die verschiedensten Berufe ausübte. Er übersetzte u.a. Werke von Anna Achmatowa, Andrej Platonow, Wladimir Majakowski, Gennadij Ajgi, Marina Zwetajewa, Joseph Brodsky, Alexander Solschenizyn und Vladimir Nabokov ins Spanische. Mit seiner russischen Frau und seiner Tochter lebt er in Mexiko-Stadt, wo er russische Geschichte lehrt.
Prieto ist der Autor der Romane "Enciclopedia de una vida en Rusia" (1998, Neuausgabe 2004) und "Livadia" (1999). Er veröffentlichte außerdem das Reisetagebuch "Treinta días en Moscú" (2002) und den Erzählband "El tartamudo y la rusa" (2002). (Suhrkamp)
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