Karl Kraus: "Die chinesische Mauer"


Karl Kraus (1874-1936) war der Herausgeber und überwiegende Verfasser der zwischen 1899 und 1936 in Wien erschienenen "Fackel" sowie Autor von "Die letzten Tage der Menschheit". Er war Pazifist, ein brillanter Sprachvirtuose und geißelte unermüdlich jede Art der Unaufrichtigkeit, insbesondere die journalistischer Art.

Kraus schrieb immer nur für Menschen über Menschen und so wundert es auch nicht, dass es in diesem Buch nicht um Steine und Mörtel geht, sondern um Mauern, die sich Menschen um den eigenen oder um anderer Menschen Geist errichten.

Anlass, über die gesellschaftliche Verhältnisse zu wettern, gab es für Karl Kraus genug. Doch eine Begebenheit in New York scheint ihn unmittelbar zu diesem Essay getrieben zu haben, der 1909 in der 285./286. Ausgabe der Fackel erstmalig veröffentlicht wurde. Im Sommer 1909 wurde Elsie Siegl (oder Sigel, wie sie in den USA buchstabiert wird) in einem Koffer in der Wohnung eines zwielichtigen Chinesen namens Leon Ling gefunden, geschnürt und ermordet. Doch das war nicht das Schockierende. Viel schlimmer scheint gewirkt zu haben, dass rund 2000 Liebesbriefe angesehener "weißer" New Yorker Frauen gefunden wurden, die an den agilen Leon Ling gerichtet waren. Die Assistenzprofessorin für Amerikanische Studien und Geschichte an der Yale University Dr. Mary Ting Yi Lui veröffentlichte 2004 ein Buch mit dem Titel "The Chinatown Trunk Mystery", in dem die Geschichte des Mordes an Elsie Siegl (Sigel) beleuchtet wird.

Und so beginnt Karl Kraus seine furiose Bestandsaufnahme der misslungenen Bändigung der menschlichen Sexualität: "EIN MORD ist geschehen und die Menschheit möchte um Hilfe rufen. Sie kann es nicht. Sie, die Lärmvolle, immer bereit, mit dem stärksten Schrei den kleinsten Stoß zu rächen, sie, die sich das Maß der Schöpfung dünkt und nur der Mißton ist in der Musik der Sphären, schweigt."

Die Menschheit schweigt, denn: "Auf dem Krater, den wir erloschen wähnten, haben wir unsere Hütten gebaut, mit der Natur in einer menschlichen Sprache geredet, und weil wir die ihre nicht verstanden, geglaubt, sie rühre sich nicht mehr." Doch: "Wir haben einen Ofen um eine Flamme gebaut. Nun verbrennt sie den Ofen."

In der Vorstellung der Entstehungszeit dieses Werkes sind Frauen nicht vollends emanzipiert, sie stehen vielmehr noch unter dem Custodium der Männer. So werden sie, da den Männern die moralische Kontrolle obliegt, mitunter auch dem Lustprinzip unterworfen. Diese Grenze muss man vor Augen haben, wenn man den Essay liest, denn gelegentlich kann man den Eindruck gewinnen, als wechsle der Ankläger der Moral die Position und vertrete die des Verteidigers des Status quo. So kann man bei Kraus und seiner messerscharfen Diktion ohne intensive Kenntnis der Zeit und der Akteure sicherlich leicht die volle Botschaft des Textes verfehlen. Doch Kraus soll in diesem Essay auch den ewig schwülstigen Maximilian Harden untergehoben haben, um diesen gewissermaßen vorzuführen. Dieses Bloßstellen durch entsprechende Zitate an geeigneter Stelle ist ein typisches Stilelement des Karl Kraus. Ein Beispiel einer solchen scheinbaren Grenzüberschreitung, die aber vermutlich eher den Harden zum Ziel hat, lautet: "Aber die Phantasie selbst ist Bisam [= Moschus], der den menschlichen Verstand versüßt und ohne den er es nicht zu Ende denken kann, dass das Weib aus dem Schwefelpfuhl sich die göttergleiche Schönheit holt. Wer solche Vorstellung nicht dem eigenen Fühlen einzugliedern vermag, zerschellt den Kopf an diesem Rätsel einer englisch-teuflischen [bezogen auf ein voran stehendes Shakespeare-Zitat] Verbindung, und dem nüchternen Untersucher zerfällt sie in ihre Teile."

Es fällt mitunter schwer, den exakten Standpunkt des Autors zu treffen, insbesondere aus der Distanz. Aber Kraus ist selten schwülstig.

Zur Causa Elsie Siegl schreibt Kraus jedenfalls weiter: "Daß Elsie Siegl starb, ist ein Lokalfall, zu dem die Reporter noch Worte finden mögen. Aber daß bei dem Kellner Leon Ling zweitausend Liebesbriefe von Frauen exquisiter Lebenshaltung gefunden wurden, das macht die Klatschmäuler verstummen und gibt dem Ereignis eine kulturbange [!] Größe. [...] Kein 'Sumpf der Großstadt' ist entdeckt worden: nicht die Fäulnis jener, die die Moral verletzen, ist aufgebrochen, sondern die Fäulnis der Moral." Und hinsichtlich der aktuell diskutierten Kuckuckskinder fährt er fort: "Aber in allen Städten, in denen dunkle Truppen ihre Zelte aufschlugen, haben sich brave Bürger eines Familienzuwachses erfreut, den sie ihr Leben lang mit mischfarbigem Gefühl besahen." Hier - und anders als in anderen Schriften - sind es auch bei Kraus die Frauen, die die Regeln verletzen.

Doch dann betritt er das Eis der unterschiedlichen Moralvorstellungen der Völker: "Der Chinese begeht keine Sünde, wenn er sie begeht. Er bedarf der Gewissensskrupel nicht, um in der Lust die Lust zu finden. Er ist rückständig, weil er mit den gedanklichen Schätzen, die ihm Jahrtausende gehäuft haben, noch nicht fertig wurde. Er ist zukunftsfähig und überdauert die Schäden, die in anderen Welten Medizin und Technik zusammenflicken." Und weiter: "Er arbeitet für ein Dutzend Weiße und genießt für hundert. Er hält Genuß und Ethik auseinander und bewahrt so beide vor der Krätze. Von dem, was wir Ausschweifung nennen, kehrt er an Leib und Seele unverändert zu den Normen des Tagwerks zurück, worin er sich höchstens unterbricht, um eine weiße Lady zu bedienen."

Und gelegentlich wird das Eis unter Karl Kraus etwas dünn: "Die Sündenmoral dezimiert ein Volk mehr als das Zweikindersystem. Sie bringt die Pathologie zur Welt und mit ihr jene geborene Homosexualität, die das erbärmliche Widerspiel der erotischen Vielgestalt bedeutet." Und weiter: "[Der Chinese] sucht nicht den Mann, zu dem die abendländische Perversität tendiert, die keine erotische Bereicherung ist, sondern eine pathologische Folge der Verkrüppelung des Geschlechtslebens durch die Moral." Hier hat sich Karl Kraus nach heutigem Stand der Sexualforschung vergaloppiert, doch darauf wird am Ende der Besprechung noch einmal eingegangen.

Nun kommt Kraus zum Kern: "Als die christliche Nacht hereinbrach und die Menschheit auf Zehen zu der Liebe schleichen mußte, so begann sie sich dessen zu schämen, was sie tat. [...] So legte man sie in Ketten. Da liebte sie die Musik klirrender Ketten, also die Perversität. Aber sie schämte sich der Gefangenschaft nicht, sondern der Gedanken, auf die sie darin verfiel: nicht der Ketten, aber des Geräusches. Sie hatte sich der Freiheit ihrer geschlechtlichen Natur geschämt, und sie schämte sich der Perversion, welche die Kultur der sexuellen Unfreiheit ist. Sie brannte und verstellte sich den Notausgang. Sie trug Stein um Stein herbei, bis eine Mauer ihr Reich der Mitte umgab, ihr himmlisches Reich. [...] Die große chinesische Mauer der abendländischen Moral schützte das Geschlecht vor jenen, die eindringen wollen, und jene, die eindringen wollen, vor dem Geschlecht. So war der Verkehr zwischen Unschuld und Gier eröffnet, und je mehr Pforten der Lust verschlossen wurden, um so ereignisvoller wurde die Erwartung. Da schlägt die Menschheit an das große Tor und ein Weltgehämmer hebt an, daß die chinesische Mauer ins Wanken gerät."

Das Buch enthält acht Abbildungen des Kraus-Freundes Oskar Kokoschka.
Der von Friedrich Pfäfflin verfasste Anhang schließt mit der Geschichte der Veröffentlichung des Essays dies Büchlein ab.

Fazit:
Die chinesische Mauer steht heute immer noch, und somit hat dieser Essay auch noch Aktualität. Einzig Krausens Position zur Homosexualität ist in zumindest zwei Punkten nicht (mehr) haltbar:
1) Eine restriktive Sexualpraktik führt nicht zur Homosexualität.
2) Zwar ist Homosexualität in China in der Tat eine normale sexuelle Ausprägung, aber geringer als in unserer Kultur dürfte deren Auftreten nicht sein, wie Prof. Erwin Haeberle von der Humboldt-Universität in Berlin schreibt (siehe auch Lien weiter unten). Aufgrund der unterschiedlichen Wertigkeit in der christlich-abendländischen und der chinesischen Welt ändert sich allerdings die Wahrnehmung der Homosexualität.

Der folgende Text der Professoren Erwin Haeberle und Dalin Liu ist ein umfassende Abhandlung zur Homosexualität im alten China:
http://www2.hu-berlin.de/sexology/GESUND/ARCHIV/YuY.htm#glei

So bedankt sich der Rezensent bei Herrn Prof. Erwin Haeberle für die freundliche Unterstützung bei der Einordnung einiger Krausscher Postulate zur Sexualität.

(Klaus Prinz; 04/2005)


Karl Kraus: "Die chinesische Mauer"
Mit Illustrationen von Oskar Kokoschka.
Herausgegeben von Friedrich Pfäfflin.
Insel, 2005. 69 Seiten.
ISBN 3-458-19199-2.
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Ein weiterer Buchtipp:

Mary Ting Yi Lui: "The Chinatown Trunk Mystery"

Murder, Miscegenation, and Other Dangerous Encounters in Turn-Of-The-Century New York City. (Derzeit nicht auf Deutsch erhältlich.)
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