Bruno Binggeli: "Primum Mobile"

Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie


Die Physik des 20. Jahrhunderts und die mittelalterliche Scholastik: zwei Seiten einer Medaille?

Diesem Buch liegt eine ehrgeizige und von der Idee her kühne Zielsetzung zugrunde: Der Schweizer Physiker und Astronom Bruno Binggeli sucht enge Parallelen zwischen der modernen Kosmologie, die vor allem auf den Erkenntnissen der Physik der letzten 150 Jahre fußt, und dem mittelalterlichen Weltbild einschließlich seiner antiken Wurzeln. Als "Schnittstelle" dient Dantes "Göttliche Komödie", jene unvergleichliche Dichtung, die nicht nur alle wesentlichen Gedanken der Scholastik enthält, sondern auch Visionen, die künftige Entwicklungen vorwegzunehmen scheinen.

Der erste Teil, "Weltbild im Wandel", behandelt zunächst abrissartig die Entwicklung der Kosmologie von den vorsokratischen Anfängen über Aristoteles und die Neuplatoniker bis hin zum christlich geprägten Mittelalter. Dantes Biografie und Lebenswelt und einer Einführung in seine "Göttlichen Komödie" ist ein weiteres Kapitel gewidmet. Schließlich umreißt der Autor die Weiterentwicklung der Physik und der Astronomie in der Neuzeit, die von Kopernikus angestoßen wurde und wesentlich mit der Aufklärung verknüpft war. Eine andere Richtung schlugen die Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert ein, als Relativitätstheorie und Quantenmechanik Newtons Physik revolutionierten. Diese Neuerungen ermöglichten die Erforschung der Frühzeit des Universums (Urknall/"Big Bang"!) und seiner kleinsten und größten Strukturen.

Im zweiten Teil, "Primum Mobile und Big Bang", befasst sich der Autor mit den oft verblüffenden Parallelen zwischen der durch Physik und Astronomie nach Einstein und Heisenberg geprägten modernen Kosmologie und jener Dantes beziehungsweise der Scholastik. Mehrere Kapitel untersuchen unter anderem die Schöpfungsgedanken beider Weltbilder - hier der Urknall als die Singularität, aus der das Universum entstand, da die biblische Genesis und das Primum Mobile, jene von Ptolemäus ergänzte äußere Sphäre, die alle anderen Sphären bewegt. Tatsächlich lassen sich viele Bereiche der Transzendenz christlicher Prägung mit relativistischen und Quantenphänomenen in Verbindung bringen, so etwa die für die Scholastik sehr bedeutsamen Engel. Binggeli zieht hier die Parallele zu den Photonen, den masse- und somit stofflosen Trägern von Licht und Strahlung. Was zuerst an den Haaren herbeigezogen klingen mag, erhält in der weiteren Ausführung einen erstaunlich tiefen Sinn, zumal wenn man Dante heranzieht, in dessen Dichtung den Engeln naturgemäß eine wichtige Rolle zukommt. Aber auch die Dreieinigkeit (Trinität) und die im Mittelalter propagierte ewige Verdammnis der Sünder finden eine Entsprechung in der modernen Physik - das Gleichgewicht der Grundkräfte Elektromagnetismus sowie starke und schwache Kernkraft zum einen, das Schwarze Loch, dem scheinbar nichts entrinnen kann, zum anderen. Und dies sind nur wenige frappierende Beispiele für Binggelis ungewöhnliche, doch logisch überzeugende Gedankengänge.

"Primum Mobile und Selbst", der dritte Teil, hat die Psychologie zum Inhalt, und zwar hauptsächlich jene von C. G. Jung. Über psychologische Symbolik und die Gegenüberstellung von Innen- und Außenwelt sowie eine Betrachtung der Ethik als Grundlage allen Handelns und Denkens gelangt der Autor zu einem Weltbild, das physikalische Gesetze und Transzendenz gleichberechtigt und einander ergänzend enthält.

Man muss offen und neugierig sein, um sich für die unorthodoxen Gedankengänge des Autors begeistern zu können; dies gilt hauptsächlich für den zweiten und dritten Teil, denn im ersten Teil erörtert der Autor die wissenschaftlichen und historischen Grundlagen. Übrigens gibt es auf dem Markt kaum ein Buch, in dem die schwierige moderne Physik so gut verständlich und dabei kurzweilig und charmant erklärt wird; dies gilt auch für die Weltbilder der Antike und des Mittelalters.

Dass, um beim oben genannten Beispiel zu bleiben, die Engel des Christentums und seiner antiken Vorgängermythologien in einem grenzüberschreitenden Weltbild den Photonen entsprechen sollen, erscheint vor allem Naturwissenschaftlern wohl auf den ersten Blick absurd. Aber die Argumentation des Autors besticht durchaus und weist auch bei den anderen Parallelen, wenn überhaupt, nur marginale Schwächen auf. Binggelis Ziel ist es nicht, eine neue esoterische Bewegung zu initiieren. Er möchte den tiefen, dunklen Graben überbrücken, den die Aufklärung zwischen der Mystik sowie dem Transzendenten ganz allgemein und den Naturwissenschaften auf der anderen Seite errichtet hat. Es liegt wohl im Wesen der Physiker, sich zur Philosophie hingezogen zu fühlen - die Gründe dafür werden in diesem Buch erfahrbar, und die Reise von Aristoteles über den genialen Dichter Dante hin zu C. G. Jung, vom "Big Bang" zu den Grenzen des Universums und an den Rand Schwarzer Löcher bietet eine Fülle verblüffender und nachdenklich machender Eindrücke. Vor allem ist sie lebendig und abwechslungsreich gestaltet und immer nachvollziehbar.

Dass ein inhaltlich derart extravagantes Buch vom Verlag attraktiv gestaltet wird, verwundert nicht. Dennoch sei vor allem auf die reiche, zumeist farbige und vielseitige Bebilderung (hauptsächlich Bilder aus Dantes Zeit, die seine "Göttliche Komödie" illustrieren, und Grafiken zur Ergänzung der wissenschaftlichen Erläuterungen) und das sehr lesefreundliche Layout hingewiesen. Ein Lob auch an das Lektorat/Korrektorat, das Druckfehlern praktisch keine Chance gelassen hat.

Mit diesem Buch gönnen Sie sich ein außergewöhnliches Leseerlebnis, und wenn Sie sich darauf einlassen, kann es Ihr Weltbild verändern und bereichern.

(Regina Károlyi; 08/2006)


Bruno Binggeli: "Primum Mobile"
Ammann Verlag, 2006. 528 Seiten.
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Bruno Binggeli, geboren 1953 in Frick/Aargau, ist Physiker und Galaxienforscher an der Universität Basel, außerdem leidenschaftlicher Dante-Leser. Er arbeitet als Astronom in Kalifornien, Chile und Florenz, wo er gleichzeitig seine Italienischkenntnisse aufbesserte, um Dante im Original lesen zu können. Als Wissenschaftler schreibt er u.a. über Zwerggalaxien und überrascht immer wieder mit unkonventionellen Ansätzen.