György Konrád: "Das Buch Kalligaro"


Dialektisches Rollenspiel

Man hat diesem Autor bereits im Jahr 1991 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, weil er seit jeher gegen die Teilung Europas eingetreten ist - sein Schreiben richtet sich ebenso gegen die Allmacht des Staates, wie er für das Ethos einer zivilen Gesellschaft streitet, die auf den einzelnen, dessen Freiheit und soziale Verpflichtung ausgerichtet ist. Im gleichen Sinne erhielt Konrád den Internationalen Karlspreis 2001 zu Aachen, weil die "Motive und Inhalte seines literarischen Schaffens ... eingebunden (sind) in das Bewusstsein der supranationalen europäischen Kultur und Geschichte." Konrád ist ein politischer Schriftsteller, sein Schreiben ist eine "Form der gesellschaftlichen Intervention." Er möchte, dass sich Europa auf seine kulturellen Gemeinsamkeiten und Wurzeln besinnt. Er ist ein europäischer Humanist, für den Frieden, Toleranz und Aufklärung als oberste Maxime gelten - er wurde geehrt als "Brückenbauer für Gerechtigkeit und Versöhnung" (zit. Karlspreisjury). Er sieht eben "die Kultur und ihre Künstler" als Garanten der Einheit Europas.

In seiner damaligen Aachener Dankesrede formulierte Konrád noch zwei weiterhin gültige Einsichten - einmal im Sinne der Aufklärung: "Unser Feind ist nicht der andere, sondern die Begrenztheit des eigenen Verstandes. (...) Eigenständige Anschauungen zu haben, das ist der größte Dienst, den der Schriftsteller seinen Mitmenschen erweisen kann." Und auch für den ganz aktuellen medialen Kulturkampf wusste er schon die tröstende Losung: "Die Epoche des Papiers mag zu Ende sein, die Welt des Wortes ist es jedoch mitnichten." Im übrigen begründete Konrád im Februar 2003, warum er für den Irak-Krieg war: jegliche Diktatur müsse zerschlagen werden - und die Amerikaner waren für Osteuropa schon immer die zuverlässigsten Partner, also schulde man ihnen Loyalität.

Im vorliegenden "Geschichts- und Geschichtenbuch" begegnen wir in der Gestalt des Flaneurs, Reisenden und Betrachters Kalligaro in etwas mehr als 200 "kurzen Erzählungen, Beobachtungen, Reflexionen" einer "neuen Spiegelung des György Konrád und seines Lebensweges" (vgl. Klappentext). Insofern ein ungewöhnliches Buch, das uns durch verschiedene Zeitabschnitte und Städte führt als eine "mosaikartik sich zusammensetzende Autobiografie" (vgl. ebd.). Konrád offeriert uns Kalligaro selbstironisch als alter Ego, weil ihm "der Gebrauch des Wortes Ich langweilig ist." Den Namen fand er "in Hegymagas, einem Dorf am Plattensee, auf Brunnenkränzen und Tränkrinnen." Und er beschreibt die Rolle dieses Kalligaro als "Aufklärer", er darf "improvisieren, Betrachtungen anstellen und sich vergnügen." Und schon kokettierend befürchtet Konrád, dieser Kalligaro könnte "jederzeit mit mir verwechselt werden. Er weiß mehr von mir als ich." Dies ist ja schon eine fast erschreckende Aussage - andererseits verrät uns Konrád, wozu dieses alter Ego nützlich ist: "solange Kalligaro tätig ist, kann ich mich dem Müßiggang hingeben." Welch dialektisches Rollenspiel!

Konrád forciert dieses Maskentragen, die Reproduktion einer anderen Persönlichkeit bis in gesellschaftliche und politische Dimensionen - die Behörden sollten getäuscht werden, bis "am Ende keiner mehr sicher sein konnte, wer eigentlich wer war." Und dieser "aus dem Brunnen gestiegene Gaukler" emanzipiert sich zusehends, indem er Konrád einredet: "Es kann nicht so berauschend sein, ständig nur sich selbst zu spielen." Das ist ein herrliches Mimikryspiel, so etwas, wofür wir die Literatur und die Literaten lieben sollten. Erzeugen und Zerstören von Illusionen, Infragestellen der Realitäten und Identitäten durch Vortäuschen und Distanzieren. Das führt Konrád fort bis zur banalen Offenbarung: "Verehrte Leserin, verehrter Leser, solltest du an diesen Kalligaro nicht glauben, dann lege nun das Buch beiseite und ärgere dich, dass du Geld dafür ausgegeben hast!" Einen viel unintelligenteren Illusionsbruch könnte ein Autor wohl kaum noch begehen.

Eigentlich ist das doch ein Essay-Zyklus ohne erkennbare Zielrichtung - es sei denn man nimmt so eine Sentenz heraus wie: "Genuss und Literatur sind dasselbe" - dann hat man eventuell Genuss an dem vorliegenden Buch. Eines darf allerdings bezweifelt werden, nämlich die Spekulation: "Es entsteht ein Schelmenroman in Budapest und anderen Städten. Jeder ins Blickfeld Geratende eine Romanfigur." Wir wollen nicht glauben, dass es sich Konrád so leicht macht. Nein, nein - es ist ein Buch voller Weisheiten, in dem sich auch verschiedene innere und äußere Spannungen steigern. Und wahrscheinlich stimmt die Aussage sogar: "Was Kalligaro schreibt, kann gegen niemanden verwendet werden, auch nicht gegen ihn selbst." Genau betrachtet ist dies vorliegende Buch eher Philosophie als Literatur, v.a. wenn man eine Postulierung im letzten Kapitel bedenkt: "Er hat sich die Philosophie des Nullpunkts angeeignet, denn stets beginnt er von vorn und misst die Geschehnisse am Nichts." Mit dieser Einstellung lässt sich ein grundständiger Optimismus begründen. Und womöglich sagt uns das Konrád: bedaure, aber es geht - und zwar weiter!

(KS; 03/2007)


György Konrád: "Das Buch Kalligaro"
Übersetzt von Hans-Henning Paetzke.
Suhrkamp, 2007. 293 Seiten.
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