Abdalhakim Kassem: "Vom Diesseits und vom Jenseits"

Zwei Novellen aus Ägypten

Er schluckte seine Tränen, öffnete die Augen und sagte mit gemessener, klarer Stimme: "Dann werde ich ruhig und aufrecht sein wie dieser Kopte."


Zwei herrliche Novellen aus Ägypten, deren überaus bilderreiche Sprache den Leser in die Welt der Protagonisten versinken lässt. Das Schicksal Awadallahs, eines koptischen Schirmmachers und seiner Familie berührt den Leser, versetzt ihn in tiefes Mitgefühl, als würde das Schicksal einen alten Bekannten ereilen. Szenen des Schmerzes ergreifen den Leser zutiefst, er wünscht eine Wende herbei und doch ist ganz klar, dass es kein Entrinnen mehr gibt. Das Schicksal hat Awadallah in seinen Würgegriff genommen und fordert seinen Tribut.

Awadallah verlässt aufgrund finanzieller Nöte gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern seine Heimatstadt. Er zieht von Dorf zu Dorf um seine Dienste anzubieten. Vorerst läuft das Geschäft nicht gut, bis einer der Dorfbewohner, ein Muslim, dem Christen eine Einladung in sein Haus aufdrängt, die ihn beschämt und ihm keine Möglichkeit lässt, sie abzulehnen.

Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, indem die ansässige muslimische Bruderschaft ihren Auftrag darin sieht, Awadallah aus seinen finanziellen Nöten zu erretten und ihn samt Familie zum Islam zu bekehren. Awadallah steht diesem Ansinnen hilflos gegenüber und sieht keine Möglichkeit, sich dagegen zu verwehren. Was vorerst als Hilfsbereitschaft gedacht war, entwickelt sich immer stärker zum Zwang. Es entsteht im ganzen Dorf eine aggressive Besessenheit. Die Prozession anlässlich des bevorstehenden Übertritts des Meisters breitet sich immer stärker zu einer gewaltigen Klagefeier aus und mutiert zu einem unermesslichen Tumult.

Einige der Dorfbewohner, darunter auch hohe Würdenträger, erkennen, dass alles falsch gelaufen ist. Trotz bitterer Reue sehen sie keine Chance den eingeschlagenen Weg zu verlassen und können vor dem tollen Treiben nur mehr ohnmächtig die Augen verschließen.

Eine Novelle mit Tiefenwirkung, die Fragen nach Toleranz und Missionierung aufwirft und vordergründige Hilfsbereitschaft kritisch beleuchtet.

Die zweite Novelle, deren Inhalt in der islamischen Kulturgeschichte und Theologie tief verwurzelt ist und das Leben nach dem Tod beleuchtet, ist ebenso bemerkenswert wie die tragische Geschichte des koptischen Schirmmachers.

(Margarete; 04/2004)


Abdalhakim Kassem: "Vom Diesseits und vom Jenseits"
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Lenos, 2004. ca. 180 Seiten.
ISBN 3-85787-349-3.
ca. EUR 18,90. Buch bestellen

Abdalhakim Kassem (1934-1990) wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Tanta im Nildelta auf und zog Mitte der 1950er Jahre nach Kairo. Zu schreiben begann er in den 60er Jahren, als er unter Nasser wegen Mitgliedschaft in einer linken Organisation zu Haft verurteilt wurde. 1974 bis 1985 lebte er im Exil in Berlin. Danach kehrte er nach Kairo zurück, wo er 1990 starb.
Sein Werk umfasst drei Romane, fünf Novellen und vier Sammlungen mit Erzählungen. Sein berühmter Novellenband "Vom Diesseits und vom Jenseits", 1984 auf arabisch erschienen, ist sein erstes Werk in deutscher Übersetzung.