Kurt Kaindl: "Der Rand der Mitte. Reisen ins unbekannte Europa"

Text von Karl-Markus Gauß


Kurt Kaindl, der Begleiter und Bilddokumentarist des Erzählers und Essayisten Karl-Markus Gauß, zeigt Fotografien von gemeinsamen Reisen zu den kleinen und wenig wahrgenommenen Völkern Europas, zu deutschen und tatarischen Minderheiten in Litauen, von den Assyrern in Schweden, den Schwarzmeerdeutschen in der Ukraine, den Zipsern und den Degesi, Außenseitern unter den Roma, in der Slowakei und den Zimbern in Italien.

Wer die Bücher von Karl-Markus Gauß, vor allem seine großartigen historischen und ethnologischen Reportagen über das andere Europa wie "Die Hundeesser von Svinia" (2004) und "Die versprengten Deutschen" (2005), gelesen hat, erkennt in diesem Bildband die zugehörigen Bilder. Menschen und deren persönliche und zugleich nationale Geschichte und Identität, Wohnräume, die meist mehr von gestern als von einer Zukunft erzählen, erkundete Kurt Kaindl mit viel Respekt und bildete sie in vorsichtigen Schwarz-Weiß-Fotografien ab.

Was aber konnte Kurt Kaindl fotografieren? Lässt sich das Minderheitenwesen dieser Personen, ihre unterschiedliche Herkunft, die andere Sprache bildlich darstellen? Wie der Erzähler Karl-Markus Gauß porträtiert Kurt Kaindl Einzelpersonen und ihre unmittelbare Umgebung, nähert sich den unbekannten Regionen Europas über individuelle Biografien. Ob die alte Zipserin in ihrem Wohnzimmer, Frau Kozák aus Hopgarten/Chmel’nica, auf Seite 47 des Buches, slowakisch denkt und träumt, ob sie sich für die Blumen am Tisch deutsch bedankte, in welcher Sprache sie lieber singt - wir wissen es nicht. Als Betrachter der Fotografien können wir ein Lebensbild erahnen, können auch dank der kurzen Zwischentexte von Karl-Markus Gauß vermuten, was sie in ihrer Jugend erlebte, wie sie alterte, warum sie Schürze und Kopftuch trägt.

Neben Menschen sind deren Häuser und Wohnräume Kurt Kaindls liebste Motive. Aus den Details im Hintergrund, den Mustern der Vorhänge, den vertrauten Gegenständen auf den Tischen und dem Zustand von Türen und Wänden kann der Betrachter Schlüsse auf das Leben der Menschen ziehen, kann sich überlegen, wie sich die Welt außerhalb des Bildrandes fortsetzt. Der Wohnraum der abgebildeten Roma liegt freilich tagsüber oft außerhalb ihrer engen Behausungen, auf den dörflichen Plätzen und erdigen Straßen.

Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen in Armut oder von abgewohnten Städten bewirken manchmal einen Eindruck von Trostlosigkeit. Zwar sind die meisten der abgebildeten Menschen weniger wohlhabend als durchschnittliche Österreicher. Wort und Bild vermitteln aber auch die positive Erkenntnis von anderen Reichtümern dieser Menschen, zum Beispiel der Gabe, in mehr als einer Sprache die Welt zu beschreiben, und ihrem standhaften Vorhaben, die persönlichen Spuren in die Vergangenheit an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Wer bereits die Reisereportagen in den Büchern gelesen hat, wird fallweise im Bildband eine exakte Zuordnung zum Gelesenen vermissen - vom Wort zum Foto zu gelangen, ist aber nur einer der beiden möglichen Wege. Zuerst das das Bild eines Menschen zu sehen, sich seine Lebensgeschichte vorzustellen, ist der weit anregendere Zugang zum "Rand der Mitte".

(Wolfgang Moser; 03/2006)


Kurt Kaindl: "Der Rand der Mitte. Reisen ins unbekannte Europa"
Otto Müller Verlag, 2006. 144 Seiten, ca. 120 Fotos.
Buch bei amazon.de bestellen

Weitere Buchtipps:

Karl-Markus Gauß: "Die fröhlichen Untergeher von Roana. Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen"

Mit Fotografien von Kurt Kaindl.
Karl-Markus Gauß ist berühmt für seine Kunst der Reisereportage. In Schweden traf er auf selbstbewusste junge Assyrer, verfolgte Christen aus dem Orient, die einst fliehen mussten, sich nun erfolgreich in ihrer neuen Heimat behaupten und zugleich davon träumen, die alte wiederzugewinnen. Im abgelegenen Gebirge in Norditalien begegnete er den letzten Zimbern, lebensweisen Untergehern, die die älteste Form des Deutschen sprechen und wohl wissen, dass nicht nur ihre eigenen Tage, sondern die der zimbrischen Kultur gezählt sind. Und er war in Litauen bei den geheimnisvollen Karaimen, von denen sich die Einen für Angehörige eines verlorengegangenen jüdischen Stammes halten und die Anderen es strikt ablehnen, etwas mit dem Judentum zu tun zu haben. Karl-Markus Gauß hat sie besucht und wundersame Geschichten von seinen Reisen ins Unbekannte mitgebracht. (Zsolnay)
Buch bei amazon.de bestellen

Karl-Markus Gauß: "Das Gedächtnis Österreichs. Ein kulinarischer Führer durch die Schatzkammern der österreichischen Landesmuseen"
Neun österreichische Bundesländer plus Südtirol ergeben zehn Landesmuseen - eine große Bandbreite an Museumssammlungen und Ausstellungen. Sie bilden zusammen einen gigantischen Speicher der österreichischen Landes-, Natur- und Kunstgeschichte, kurz: Das Gedächtnis Österreichs.
Die Bandbreite reicht von Insektensammlungen bis zur zeitgenössischen Kunst, von den frühesten Spuren menschlicher Kultur in der gegenwärtigen Alltagskultur. Die Landesmuseen sind daher ein idealer Ort kulturellen Wissens und gesellschaftlicher Erfahrungen, Bildungsstätte und Erlebnisraum ebenso wie Informationsreservoir und Zukunftslaboratorium.
In vorliegendem Band, der von einem Essay des bedeutenden österreichischen Schriftstellers Karl-Markus Gauß begleitet wird, stellen sich, unter Einbeziehung von Südtirol, zehn Museumshäuser vor, die viele Gemeinsamkeiten teilen: Die Sorge um überwiegend historische gewachsene, zum Ausufern tendierende Sammlungen, die Koordination zahlreicher Nebenhäuser oder Außenstellen sowie den hohen Anspruch einer lebendigen und attraktiven Kulturvermittlung. (Brandstätter Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Karl-Markus Gauß: "Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone"
Zur Erweiterung der Europäischen Union um zehn Mitgliedstaaten hat Karl-Markus Gauß zehn Reisereportagen verfasst. Es sind dies Wirtshausgespräche eines Autors, der seit langem an den Rändern Europas unterwegs ist.
Ob die "Osterweiterung" der Europäischen Union nicht zutreffend als "Westerweiterung" zu bezeichnen wäre, sei dahingestellt. Ein epochales Ereignis war es jedenfalls, als im Mai 2004 zehn mittel- und südosteuropäische Staaten der Union beigetreten sind. In diesem geschichtsträchtigen Frühjahr ist Karl-Markus Gauß, der literarische Kartograf des anderen, des unbekannten Europa, zu einer langen europäischen Reise aufgebrochen. Von Estland bis nach Malta, von Litauen bis nach Slowenien, von der östlichsten bis zur südlichsten Stadt der erweiterten Union ist er im Auftrag einer großen Zeitung gefahren. Er hat sich nicht mit den offiziellen Repräsentanten der Staaten, mit den Sprechern von Konzernen und Regierungen getroffen, sondern seinen eigenen Weg durch Länder gesucht, von denen wir nur wenig wissen und mit denen wir jetzt doch in einer gemeinsamen Union verbunden sind. Mit melancholischem Witz fängt Gauß in zehn Reisebildern aus den zehn Beitrittsländern ein, was Daten und Statistiken nicht vermitteln können: die widersprüchliche Wirklichkeit des neuen, alten Europa. Ob in abgelegenen Dörfern oder in den herausgeputzten Hauptstädten, überall begegnet er kauzigen, charmanten, empörten Menschen, die ihm von ihren Hoffnungen und Enttäuschungen berichten: In den "Wirtshausgesprächen in der Erweiterungszone" erzählt Gauß von ihrem und unserem Europa. (otto müller verlag)
Buch bei amazon.de bestellen