Klaus Wagenbach: "Kafka"

Biografie seiner Jugend


Klaus Wagenbach war Anfang des Jahres 1950 Lehrling im Verlag "Suhrkamp vorm. S. Fischer" geworden. Er begann in der Herstellung zu arbeiten, wobei sich Fritz Hirschmann als wunderbarer Lehrer erwies. Nur wenige Monate später erfolgte aus spezifischen Gründen die Trennung in zwei Verlage. Klaus Wagenbach blieb seinem Mentor glücklicherweise erhalten, wodurch er nur kurze Zeit später ein braunes, schäbig gedrucktes Buch für eine Umfangschätzung in die Hand gedrückt bekam. Fritz Hirschmann sagte: "Bub, schätz das mal!" Der Lehrling begann also die Zeilen zu zählen, als er plötzlich stutzte. Er las die erste Zeile, die zu zählen gewesen war:

"Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hatte, wurde er eines Morgens verhaftet."

Er hatte vom Autor Kafka schon gehört; besonders in Hinsicht auf die Konkurrenz, welche in Bezug auf die Rechte zwischen den Verlagen S. Fischer und Suhrkamp bestanden, da es sich um einen in Deutschland unbekannten, weltweit betrachtet allerdings berühmten Autor handeln mochte. Gleich in der darauffolgenden Nacht las Klaus Wagenbach den Prozeß und danach in ziemlich kurzer Zeit sämtliche veröffentlichten Werke dieses Autors. Die Liebe zu Franz Kafka war entzündet worden. Eine Liebe, die in einer Dissertation ihren Ausdruck fand, welche von einem Verlag schnell als positiv bewertet worden war. Es handelt sich um eben jene Biografie, die nunmehr von Herrn Wagenbach selbst kritisch kommentiert und ergänzt und mit vier Essays erweitert worden ist.

Die Biografie erschien erstmals 1958, und Klaus Wagenbach ist eine wunderbare Darstellung des Lebens von Franz Kafka bis ins Jahr 1912 gelungen. Er selbst war mit der Biografie von Max Brod nicht besonders zufrieden gewesen und hat sich mit sehr viel Engagement daran gemacht, für seine große Aufgabe zu recherchieren. Er traf dabei eben auf jenen Max Brod, der ihm nicht nur Dokumente und Fotos, sondern zudem zahlreiche seinerzeit noch unbekannte Briefe an Kafka zugänglich machte. Um Max Brod und viele weitere liebenswürdige Helfer zu treffen, hatte Klaus Wagenbach sich im Jahre 1956 als Nichtjude unter dem Schutz zweier Bürgen nach Israel begeben müssen. Zudem geriet Klaus Wagenbach mit Felix Weltsch und Hugo Bergmann in Kontakt. Max Brod war, nachdem der Biograf sein Manuskript an ihn geschickt hatte, sehr begeistert davon, um allerdings kurze Zeit später ziemlich missmutig zu sein, da er sich selbst als einen Menschen charakterisiert sah, an dem man eigentlich zweifeln müsse. Auf diesen Punkt geht Klaus Wagenbach in einem seiner Kommentare genauso ehrlich ein wie auf viele andere Faktoren, welche nunmehr aufgrund des literaturwissenschaftlichen Fortschritts etwas anders gedeutet werden können.

Was diese Kafka-Biografie von vielen anderen biografischen Kafka-Versuchen unterscheidet, die im Laufe der Jahrzehnte erschienen sind, ist zweifellos die Liebenswürdigkeit, mit der Klaus Wagenbach den Autor Franz Kafka schildert. Er hält nichts davon, Kafkas Werke werkimmanent oder auf eine sonstige fragwürdige Weise zu analysieren, sondern geht einzig und allein von Erkenntnissen aus, die aus dem dokumentarischen Material, welches von Franz Kafka vorliegt, hervorgehen. Als Beispiel hierfür mag die Hintergründigkeit der Erzählung "In der Strafkolonie" gelten, in welcher der Autor auf deutliche Weise eine Maschine schildert, die letztlich ihren Konstrukteur auf abscheuliche Weise zu Tode bringt. Jene Nadeln, die unfassbare Schmerzen verursachen, kannte Franz Kafka in seiner Eigenschaft als Mitarbeiter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. In Fabriken gab es häufig keinerlei Schutzmaßnahmen für die Gesundheit der Arbeiter, die eben auch mit Maschinen hantierten, welche mit Nadeln gespickt waren. War der Finger nur um einen Millimeter näher an der Ausgangsposition des Werkstücks, so war es leicht möglich, dass der Arbeiter schwer verletzt wurde. In diesem Zusammenhang weist der Rezensent darauf hin, dass Franz Kafka öfters Aufsätze für die Versicherung schrieb. In einem beschäftigte er sich mit dem Unterschied zwischen einer gefährlichen Vierkantwelle und einer Originalsicherheitswelle für Holzhobelmaschinen. Die schlechte Sicherung von Maschinen war Kafka ein Dorn im Auge. Er nahm seine Tätigkeit sehr ernst und war stets bemüht, für mehr Sicherheit für die Arbeiterinnen und Arbeiter in Fabriken einzutreten.

Zwei Aspekte in dieser Biografie möchte der Rezensent hervorheben, zumal Klaus Wagenbach darauf besonderen Wert legen mag. Zum Einen die sprachliche Entwicklung, die Franz Kafka auszeichnete, zum Anderen seine Weigerung, in einem Beruf mit Literatur etwas zu tun haben zu wollen.

Aus den frühesten literarischen Zeugnissen von Franz Kafka geht hervor, dass er sich sprachlich noch ein wenig schwer tat, stets die richtigen Ausdrücke für seine Kopfgeburten zu finden. Er war als deutschsprachiger Jude in Prag ohnehin fast ein "Unikum", und seine Sprache war eine Zeit lang relativ stark ans Tschechische angelehnt. Somit kam es teilweise zu leicht indifferenten sprachlichen Auseinandersetzungen, welche freilich nur Menschen beurteilen können, die sowohl des Tschechischen als auch des Deutschen mächtig sind. Was Kafka auszeichnete, war, dass er diesen Indifferenzen auf die Spur kommen wollte und sein Pragerdeutsch sich stetig weiter entwickelte. Sein Sprachstil wurde immer genauer und konkreter. Die Natur hatte in seinen Werken ebenso wenig Bedeutung wie etwa bei Dostojewski, worauf Klaus Wagenbach dezidiert hinweist. Zweifellos beschäftigte sich Kafka so intensiv mit der deutschen Sprache, dass er im Laufe der Zeit zu einem Meister der Beschreibung wurde. Bezeichnend für Kafka ist, dass er den Erzähler sozusagen "außen vor" lässt.

Franz Kafka bekam immer wieder Angebote, im Sinne eines literarischen Kontextes erwerbsarbeitsmäßig tätig zu werden. Diese Möglichkeiten hat er stets zurückgewiesen. Er wollte bewusst eine berufliche Tätigkeit ausüben, die ihm viel Möglichkeit gab, seiner eigentlichen Passion, dem Schreiben, viel Zeit widmen zu können, und nicht auch noch beruflich mit sekundären literarischen Belangen eingespannt zu sein. Aufgrund dessen muss es für ihn entsetzlich gewesen sein, an seinem allerersten Arbeitsplatz in der Assicurazioni Generali mehr oder weniger dahinvegetieren zu müssen. Die berufliche Tätigkeit selbst störte ihn nicht besonders, wenngleich er sie keineswegs als "berauschend" empfand. Doch ein Tagespensum von oft zehn Stunden und mehr sowie die Tatsache, dass er hie und da - unbezahlt - zudem an grundsätzlich arbeitsfreien Tagen im Büro auftauchen musste, wurde ihm recht schnell zuviel. Er benötigte genügend Freiraum, den ihm die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt ermöglichte. Bald schon war die tägliche Arbeitszeit des Juristen Kafka auf sechs Stunden reduziert. Freilich fanden es seine Chefs für die berufliche Tätigkeit von Kafka wenig förderlich, dass er dem Schreiben nachging. Doch das mochte den Autor Kafka nicht berührt haben.

Was Wagenbach so herrlich verdeutlicht, sind die Bescheidenheit und Ehrlichkeit, die zwei Grundtugenden von Franz Kafka gewesen sind. Er nahm sich nie ein Blatt vor den Mund und war auch sich selbst gegenüber - teilweise - brutal ehrlich. Während er seine Werke nur selten zu veröffentlichen versuchte, war sein Freund Max Brod von den literarischen Leistungen seines Freundes hingerissen. In einer überlieferten "Anekdote" ist davon die Rede, dass Max Brod, der schon bald Ruhm als Autor einheimsen konnte, auf seine Qualitäten als Autor angesprochen, nicht auf sich selbst einging, sondern den zu dessen Lebzeiten nahezu unbekannten Franz Kafka als das wahre Genie apostrophierte. Für Max Brod war sein Freund Franz buchstäblich ein "Heiliger". Dies war wohl der Grund, warum er das Ersuchen von Franz Kafka, sämtliche Werke nach seinem Tode zu verbrennen, nicht erfüllen wollte. Max Brod hat dadurch der Nachwelt ermöglicht, einen der erstaunlichsten Autoren der Weltliteratur kennen zu lernen. Der Rezensent verhehlt nicht, Franz Kafka ähnlich wie Klaus Wagenbach zugetan zu sein. Es gibt Autoren, die einen nie loslassen, wenn man sie einmal kennen gelernt hat. Somit kann ich schlussendlich ganz persönlich kundtun, dass ich mir gut vorstellen kann, wie sehr Klaus Wagenbach sich der Auseinandersetzung mit dem Werk und dem Leben von Franz Kafka verpflichtet fühlt. Der Biograf bekennt ja, Kafkas dienstälteste lebende Witwe zu sein. Und dies kann insbesondere nach der erquickenden Lektüre der nunmehr kongenial ergänzten und erweiterten Biografie als Tatsache definiert sein.

(Jürgen Heimlich; 04/2006)


Klaus Wagenbach: "Kafka"
Verlag Klaus Wagenbach, 2006. 328 Seiten.
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Klaus Wagenbach starb am 17. Dezember 2021 in Berlin.

Noch ein Buchtipp:

Niels Bokhove, Marijke van Dorst: "Einmal ein großer Zeichner. Franz Kafka als Bildender Künstler"
Sprechen wir vom Werk Franz Kafkas, so denken wir unwillkürlich an sein literarisches Werk. Weniger bekannt ist, dass Kafka auch gerne zeichnete. Kafkas Freund und literarischer Nachlassverwalter Max Brod meinte schon früh, dass er "auch als Zeichner ein Künstler von  besonderer Kraft und Eigenart" sei und seine Zeichnungen zu unrecht als "Kuriosum" betrachtet werden.
In diesem Band wird das zeichnerische Werk des Dichters in all seiner Dichte präsentiert und im Zusammenhang mit den entsprechenden Texten des Schriftstellers dargestellt. (Vitalis Verlag)
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