Wolfgang Günter Lerch: "Denker des Propheten

Die Philosophie des Islam"


Hatte man in Europa noch im 18. Jahrhundert lediglich die Dichtkunst des islamischen Kulturraumes als besondere Leistung gelten lassen, gesellte sich im folgenden Jahrhundert auch die Einsicht hinzu, dass viele antike Denker nur durch die Vermittlung des Orients bei uns bekannt geworden sind. Wenn man sich heute langsam aber sicher mit islamischem Denken zu beschäftigen beginnt, geschieht dies meist unter politischen Vorzeichen, äußerst einseitig und alles andere als sachlicher Art, oder - wie in diesem Buch - zunächst einmal rückwärtsgewandt, einhergehend mit einer Wiederentdeckung europäischen Filosofierens im Mittelalter, mit welchem das islamische Denken tatsächlich viele Parallelen aufweist.

Wie im europäischen Mittelalter (und im Gegensatz zu heutzutage) gab es im damaligen Orient fließende Übergänge zwischen Filosofie, Theologie und Wissenschaft; die meisten Filosofen waren gleichzeitig Ärzte, Astronomen, Gelehrte der verschiedensten Professionen und nicht zuletzt gläubige Moslems. So geriet denn auch der Koran zur wichtigsten Orientierungshilfe orientalischer Denker und prägte den arabischen und persischen Kulturkreis noch weit stärker als die Bibel ihren europäischen Wirkungsbereich. Der Koran lehrt, dass die menschliche Vernunft eine der größten Gaben Gottes an die Menschen ist. Was lag also näher, als die Wahrheiten des Heiligen Buches des Islam auch mit der menschlichen Vernunft zu erschließen, sie durch rationale Überlegungen abzusichern. Später entwickelte sich die Lehre von den unterschiedlichen Bedeutungsebenen im Koran, die es zu entschlüsseln gelte, eine Vorgehensweise, die es vor allem in der islamischen Mystik verwurzelten Denkern ermöglichte, höhere Bewusstseínszustände und Seinsformen in Worte zu fassen. Es gab auch Stimmen, die den Koran als Filososfie für das einfache, mehr konkreten Bildern als abstrakten Begriffen zugängliche Volk verstanden; so weit freilich, eine Koransätzen entgegenstehende Meinung zu vertreten, ging man nur selten und nicht immer gefahrlos, ist doch der Koran nach islamischem Glauben das direkte Wort Gottes.

Der zweite Haupteinfluss war die griechische Filosofie, die als al-falsafijja Einkehr in die arabische Sprache fand. Durch den Hellenismus waren die griechischen Filosofen Platon und Aristoteles nebst ihren spätantiken Nachfolgern bekannt geworden und sorgten auch in diesem Teil der Erde neben sonstiger Inspiration für einen Gutteil der Begriffswelt und Systematik. Ein weiterer fruchtbarer Anstoß erfolgte durch Gedankenaustausch mit den fremden Kulturen der eroberten Gebiete, und auch Glaubensspaltungen bewirkten die Geburt mancher eigenständiger Denkrichtung (wie zum Beispiel die des persischen Kulturkreises). Eingebettet in diese kurze Gesichte islamischen Denkens werden die bedeutendsten Filosofen - Al Farabi, Ibn al-Arabi, Al Ghazali, Suhrawadi, Ibn Ruschd alias Averroës, Ibn Sina alias Avicenna (um nur einige der Namen klingen zu lassen) -, ihr Leben und ihr denkerisches Werk jeweils auf ein paar Seiten vorgestellt. Mit wenigen Ausnahmen (Mulla Sadra; 1571-1640) stammen sie aus der Zeit vor 1500, als der Islam insgesamt in Blüte stand und auch dem europäischen Mittelalter wertvolle Impulse gab. Der Autor schildert die Filosofen in den Umständen ihrer Zeit, skizziert in groben Zügen die Metafysik dieser Denker, zeigt Einflüsse auf, vergleicht mit Erscheinungen der europäischen Filosofie, erklärt den einen oder anderen schwer oder nicht übersetzbaren arabischen Fachausdruck. Letzteres macht er etwas selten, wie der Autor überhaupt mit dem starken mystischen Aspekt im islamischen Denken wenig anfangen kann.

Obwohl also der Eurozentrismus, den das Buch bekämpfen will, hartnäckigen Widerstand leistet, handelt es sich allemal um ein gutes Einführungsbuch, einen Schritt in die richtige Richtung.

(fritz; dezember 02)


Wolfgang Günter Lerch: "Denker des Propheten. Die Philosophie des Islam"
Patmos Verlag 2002
184 Seiten
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