Khaled Hosseini: "Drachenläufer"

Gelesen von Markus Hoffmann
(Hörbuchrezension)


Schuld und Sühne auf Afghanisch

Drachen spielen in Afghanistan besonders in den Herbst- und Wintermonaten eine große Rolle. Drachenkampf ist Volkssport. Eine Leidenschaft vor allem der Männer. Und das fängt bereits bei den Jüngsten an.
Unter den Taliban wurde diese alte Tradition verboten. Sie war nicht mit den Geboten des Islam zu vereinbaren. Doch heute sieht man wieder die Drachen am Himmel Afghanistans.

Drachenkampf ist aber auch Teamsport. Einer lenkt mit viel Fingerspitzengefühl den Drachen, der Andere bedient die Spule. Und dabei herrscht hoch oben im Himmel ein gnadenloser Kampf. Die Schnur - mit Glasfaser beschichtet - ist dabei die Waffe. Gilt es doch die Lufthoheit gegenüber den anderen Drachen zu gewinnen, seinen "Gegner" vom Himmel zu holen und als Trophäe mit nach Hause zu nehmen.
Und eben dieser Drachenkampf durchzieht reell und latent metaphorisch den ganzen Roman "Drachenläufer" von Khaled Hosseini.

Erzählt wird eine fast klassisch zu nennende und sehr bewegende Geschichte um Freundschaft, Verrat und den späten, verzweifelten Versuch einer Wiedergutmachung, und dies in einer außergewöhnlich schönen, nahezu poetischen Sprache.
Der Inhalt des im Jahr 2003 zum Welterfolg avancierten Romans ist bereits ausführlich und tiefgründig beschrieben worden. Daher nur eine kurze Zusammenfassung:
Das Ritual des Drachenkampfes führt in die Romanhandlung ein, in welcher die Geschichte einer Jungenfreundschaft vor einem dramatischen politischen Hintergrund geschildert wird.
Fast paradiesisch geht es zunächst für den Helden des Romans zu, den zwölfjährigen Amir - Sohn eines wohlhabenden Paschtunen -, der in einem modernen, westlich orientierten Haushalt in Kabul aufwächst - in luxuriösen Verhältnissen, die deutlich machen, wie viel näher Afghanistan einmal an Europa lag. Doch die Idylle hält nicht lange an.
Verrat beziehungsweise Versagen kennzeichnen diese Beziehung von früh an, ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman zieht und auch bei anderen Charakteren verfängt. Nur ganz langsam enthüllt der Roman die wahren Schuldzusammenhänge und Beziehungen.
Gleichzeitig wird ein wunderbarer Einblick in die historische Entwicklung Afghanistans der letzten dreißig Jahre und deren kulturelle Differenzen zwischen verschiedenen Volksgruppen, hier Paschtunen und Hazara, offeriert. "Drachenläufer" ist aber gleichzeitig auch eine Geschichte über Scham und Schuld und deren Überwindung in einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft.

Der Verlag Steinbach Sprechende Bücher hat den Welterfolg vertont und mit Markus Hoffmann eine Idealbesetzung gefunden.
Er versteht es, die Bilder des Buches zum Leben erwecken zu lassen: eine auditive Visualisierung par excellence. Der Hörer wird mental in seine eigene Kindheit zurückversetzt:
"... dieses Gefühl, wenn der Wind bläst, sich die Schnur spannt, wenn der Drachen zu steigen beginnt, ein zartes Vibrieren, durch die Schnur auf den Drachenlenker zurückgegeben, plötzlich eine Böe, der Drachen vollführt eine waghalsige Kehre, scheint zu Boden zu stürzen, fällt, man meint schon die zerbrochenen Streben am Boden liegen zu sehen, hält den Atem an, ein Ruck in der Schnur, im letzten Moment bekommt er wieder Aufwind, und steigt, und steigt ..."

Äußerst bewegend liest Markus Hoffmann dieses Buch. Durch seine Interpretation, das Verlagern der Stimme, angepasst an die jeweilige Situation, gezielte Pausensetzung, einmal ein leises Flüstern, dann wieder durch die Zähne gepresste Wut, stellt er die Hörbuchfassung losgelöst neben das geschriebene Wort, ja er potenziert sogar dessen Qualität. Hoffmann schafft es, dass die Protagonisten von Hosseinis Romanvorlage in diesem Hörbuch gar schärfer konturiert erscheinen.

Trauer, Freude, Liebe, Hass und Feindseligkeit vermag Hoffmann dem Hörer auf unnachahmliche Weise zu vermitteln. Sein Timbre nuanciert äußerst subtil.
Auch wenn der Schmerz in diesem (Hör-)Buch zeitweilig schier unerträglich ist, so stimmt die Botschaft - der Drachen - doch zuversichtlich:
Drachensteigen ist letztlich für die Kabuler - stellvertretend für alle Afghanen - vor allem eins: die beliebteste Form der Entspannung. "Wenn du hier zum Drachensteigen kommst, egal ob du Probleme hast, ob du traurig bist: du vergisst alles. Wenn du hoch in den blauen Himmel schaust, dann richtet sich deine ganze Aufmerksamkeit nur noch auf den bunten Drachen."

Und dieser beliebte Volkssport gibt auch am Ende des Buches ein kleines Fünkchen Hoffnung.
"Zendagi migsara", sagt ein altes afghanisches Sprichwort. Das Leben geht weiter.

Fazit: Es gibt schlechte und es gibt gute Hörbücher. "Drachenläufer" von Khaled Hosseini, gelesen von Markus Hoffmann, ist ein außergewöhnliches gutes Hörbuch!
650 Minuten allerfeinster Hörgenuss - ein exzellent artikuliertes Juwel unter der großen Auswahl an Hörbüchern.

(Heike Geilen; 10/2007)


Khaled Hosseini: "Drachenläufer"
(Originaltitel "The Kite Runner")
Aus dem Amerikanischen von Angelika Naujokat und Michael Windgassen.
Gelesen von Markus Hoffmann.
Steinbach Sprechende Bücher, 2007. 9 CDs; Laufzeit 650 Minuten.
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Buchausgabe:
Berlin Verlag. 385 Seiten.
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Khaled Hosseini wurde 1965 in Kabul, Afghanistan, geboren. Er ist das älteste von fünf Kindern eines Diplomaten und einer Lehrerin. 1976 zog seine Familie nach Paris, wo sein Vater eine Stelle in der Botschaft Afghanistans übernahm. 1980 sollte ihn der diplomatische Dienst wieder nach Afghanistan zurückführen. Doch zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land, nach einem blutigen kommunistischen Staatsstreich, im Krieg mit den sowjetischen Invasoren. Khaled Hosseini und seine Familie erhielten 1980 politisches Asyl in den Vereinigten Staaten von Amerika und zogen nach San Jose in Kalifornien. Nach Abschluss der San Diego Universität lebt Kahled Hosseini heute als Arzt in Nordkalifornien. "Drachenläufer" war sein erster Roman, er erschien gleichzeitig in einem Dutzend Ländern.
Lien zur Netzseite des Autors: http://www.khaledhosseini.com/.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Tausend strahlende Sonnen"

In diesem Roman erzählt Khaled Hosseini wieder eine zutiefst bewegende Geschichte aus seinem Heimatland: vom Leid und der Ohnmacht, aber auch vom außergewöhnlichen Mut zweier afghanischer Frauen.
Die unehelich geborene Mariam wird mit fünfzehn Jahren ins ferne Kabul geschickt, wo sie mit dem dreißig Jahre älteren Witwer Rashid verheiratet wird. Zwanzig Jahre später erlebt Leila, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ein ähnliches Schicksal. Auch ihr bleibt keine Wahl: Nachdem ihre Familie bei einem Bombenangriff getötet wurde und sie erfährt, dass auch ihr Jugendfreund Tarik, den sie seit gemeinsamen Kindertagen liebt, angeblich ums Leben gekommen ist, wird sie Rashids Zweitfrau. In dem bis dahin kinderlos gebliebenen Haushalt bringt Leila nacheinander eine Tochter und einen Sohn zur Welt.
Während der Taliban-Herrschaft machen Bombardierungen, Hunger und physische Gewalt das Leben der Familie zur Qual. Die Not lässt die an sich so unterschiedlichen Frauen zu engen Freundinnen werden und ihre Stärke schließlich ins Übermenschliche wachsen.
Khaled Hosseini gelingt es wie in "Drachenläufer" auf unvergleichliche Weise, seine Figuren so lebendig und authentisch werden zu lassen, dass der Leser sie lange nicht vergisst. zur Rezension ...
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