Alban Nikolai Herbst: "Meere"


Des Meeres und der Triebe Wellen. Das Experiment einer (nicht?) maßstabsgetreuen Vergangenheitsüberwältigung.

Schon lange ist der Wahrheitsgehalt von Autobiografien ein häufig und gern angerissenes Thema, was zur nach Meinung der Rezensentin höchst theoretischen Fragestellung überleitet, inwieweit literarische Selbstdarstellungen der Belletristik beziehungsweise dem Sachbuchbereich zuzurechnen seien. Das Ausmaß an empirischem Wahrheitswert stand und steht immer wieder zur Debatte, was Gerichtsprozesse wie jener um Maxim Billers Roman "Esra" zeigen. Mit Vorbehalten zu genießen sind autobiografische Romane bekanntlich allemal, und man ist in den meisten Fällen gut beraten, nicht jede reizvolle Einzelheit für bare Münze zu nehmen.

Wer Alban Nikolai Herbsts von vielen Kritikern aus unbegründeten Berührungsängsten heraus links liegen gelassene bisherige Romane kennt, mag nun möglicherweise nach dem Zusammenhang zwischen dem einleitend Geschriebenen und diesem Autor fragen, und das vollkommen zu Recht, ist Herbst durch sein literarisches Schaffen bislang doch als ebenso sprachinnovativer wie ideenreicher Erdenker und Wegbereiter mythologisch-fantastisch vermengter Welten und Figuren in Erscheinung getreten, und nicht als Selbstaufdecker.

"Meere" hingegen zeigt ihn von einer der Leserschaft neuen Seite, seiner höchstpersönlichen nämlich - oder ermöglicht zumindest einen sozusagen autorisierten Blick auf Aspekte und Spiegelungen des Menschen hinter der Maske "Herbst", dessen Kindheit und Jugend, sowie auf einige Jahre seines Lebens als Erwachsener. Freunde selbstgemachter psychologischer Ferndiagnosen werden desgleichen auf ihre Rechnung kommen; als Appetithappen seien angeführt: Persönlichkeitsspaltung infolge Identitätsverweigerung (nicht Identitätssuche, wie es scheint), um funktionieren (oder überhaupt existieren) zu können, problematische Familiengeschichte, (Selbst-)Zerstörungswut, Sexsucht, Beziehungsunfähigkeit, Angstzustände, Gewalt- und Zornausbrüche.
Doch ist das Buch kein Bastelbogen, um eine Projektionsfläche anzufertigen.

Wer des Autors geschmeidiges Spiel mit Perspektiven, Zeitabläufen und nicht zuletzt Sprache aus anderen Romanen kennt und schätzt, wird all diese Elemente auch in "Meere" vorfinden, doch schlägt Alban Nikolai Herbst diesmal eine gänzlich andere Richtung ein. Er unternimmt den (möglicherweise als Befreiungsschlag wirksamen) Versuch, seine Identität zu lüften. Interessant an "Meere" sind womöglich also weniger die geschilderten Ereignisse um den Verlauf einer letztendlich unhaltbaren Beziehung, sondern vielmehr verdient Aufmerksamkeit, wer schildert und wie geschildert wird.

Daher sei es an dieser Stelle gestattet, einen nun, da der Autor selbst es offenkundig wünscht, für das Verständnis unumgänglichen Blick auf seine Abstammung zu werfen: Alban Nikolai Herbst wurde 1955 als Alexander von Ribbentrop geboren. Der am 1. Oktober 1946 schuldig gesprochene, zum Tode verurteilte und am 15. Oktober 1946 durch den Strang hingerichtete Joachim von Ribbentrop, der in den Geschichtsbüchern u. A. im Zusammenhang mit dem Hitler-Stalin-Pakt, den er als Außenminister des Dritten Reichs mit seinem sowjetischen Amtskollegen Molotow ausverhandelte und 1939 unterzeichnete, Erwähnung findet, war sein Großonkel.

Im Roman ist der zum Tode verurteilte Großvater der Hauptfigur ein Aristokrat namens Wernher von Kalkreuth, und die zahlreichen Wunden, die aus den prägenden Erfahrungen seines Enkels, eines sich von frühester Kindheit an als Außenseiter fühlenden und auch gerierenden Knaben und später jungen Mannes, im Roman heißt er Julian von Kalkreuth, resultieren, führen schließlich dazu, dass aus von Kalkreuth "Fichte" wird. Eine Kunstfigur, eine Rolle; Bollwerk gegen Verwundungen durch die Mitmenschen (Herbst/Fichte bezeichnet die traumatisierenden Ereignisse als "Vampire").
Jedoch kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass sich hier zwar eine vielversprechende Raupe verpuppt hat, die Metamorphose zum Schmetterling allerdings noch nicht abgeschlossen ist, was immerhin gleichzeitig neugierig auf kommende Entwicklungen macht. Die Hypothek des Geburtsnamens ließ Alexander von Ribbentrop einst selbst zu einem Künstlernamen greifen.

Aber zurück zu jenem Julian von Kalkreuth, der sich eine Rolle auf den Leib erfinden muss, um sich wie ein zeitgenössischer Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Rechtfertigungszwänge zu ziehen und an einem fiktiven Nullpunkt zu beginnen, also die Bürde der Erbschuld abzuschütteln. Er nennt sich fortan Fichte; kurz und bündig. Fichte ist mehr als die Summe der Einzelteile Julian von Kalkreuths. Er wird ein anerkannter Objektkünstler, der mit monumentalen Installationen einige Bekanntheit erlangt. So arbeitet er beispielsweise monatelang in Polen an gigantischen Objekten, den "Höllenpalästen". Szenetypische Vorkommnisse und Figuren wie Schmarmützel unter Künstlerkollegen, Geldnöte, übelwollende Kritiker und vermarktungsgeile Galeristen bekommen sicherlich wohlverdiente Seitenhiebe ab.

Kann man erwarten, verstanden zu werden, wenn man nicht als derjenige auftritt, der man ist? Egozentrisch zu sein, mag ja grundsätzlich nichts Verdammenswertes sein, so das Ego tatsächlich über ein definiertes Zentrum, eine innere Stabilität eben, verfügt.
Julian von Kalkreuth ist in seinen Vierzigern, als er Irene Adhanari, eine 21-jährige Halbinderin, deren Aussehen den Künstler auf Anhieb fasziniert, kennenlernt. Gemeinsam erkunden Fichte und Irene alle Variationen körperlicher Begegnungen, an deren detailfreudiger Schilderung auch der Leser bis zur Übersättigung teilhaben darf.

Aber mehr als ein gegenseitiges Benutzen der Oberfläche und der Körperöffnungen des Anderen entwickelt sich nicht. Zu eindimensional, reduziert auf spärliche Gemeinsamkeiten, leben Irene und Fichte nebeneinander her. Sie treiben zwar die körperliche Intimität auf die Spitze ("Letztlich besaß allein Sex die Gewalt, ihn aus seinen ewigen Kämpfen zu reißen."), doch eine wahrhaftige Verbundenheit stellt sich in all den Jahren nicht ein. Wenngleich Irene auch mehr und mehr tut, um Fichtes Idealbild einer Frau nahe zu kommen, es wird niemals genug sein - mit einer Wunschvorstellung zu konkurrieren, ist ein Kampf mit ungleichen Waffen, der nicht gewonnen werden kann, und auf den sich wohl auch nur unerfahrene Liebende einlassen.

Es folgen die üblichen Höhen und Tiefen eines Künstlerdaseins, zahllose Affären (denn: "Fremdheit macht Erektion."), Fichte beendet eine 17 Jahre währende Beziehung mit einer Jugendfreundin, die er neben Irene hatte, kreative und sexuelle Rauschzustände wechseln sich ab, eine besinnungslose Abfolge des Auslotens und Ausdehnens von Grenzen.

Nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes erreicht die Beziehung ungeahnte Tiefen, Grobheiten gehören zum Alltag. Fichte ist und bleibt ein Getriebener. Irene wendet sich schließlich einem anderen Mann zu, der zwar verhältnismäßig unspektakulär, doch verlässlich ist, und der ihre Interessen teilt. Es kommt zu jener Eifersuchtsszene, die als "Blutschlacht" bezeichnet wird. Fichte flüchtet, nachdem Irene ihn verlassen hat, zum Lecken seiner Wunden und Grübeln nach Sizilien, wo Irene ihn ein letztes Mal besucht und ihn an seine Pflichten nicht-finanzieller Natur gegenüber seinem Sohn Julian erinnert. Die Prozesse und Ergebnisse des Sizilischen Grübelns lassen sich in "Meere" nachlesen, und in der einfachen, natürlichen Umgebung scheint eine gewisse Besinnung einzusetzen.

Interessant ist die gewählte Darstellung der Ereignisse: Der Schreibende (bei Herbst bekanntlich ein amorphes Wesen) richtet seine Worte direkt an die Charaktere (wobei manchen Lesern vielleicht die Worte einer "Beatles"-Schöpfung,"I Am the Walrus", in den Sinn kommen: "I am he as you are he as you are me and we are all together ..."), und die Geschichte entwickelt sich gleich einer an beiden Enden angezündeten Lunte, unter Einarbeitung musikalischer Strukturen wie beispielsweise wiederkehrend verwendeter markanter Aussprüche (z. B. "Du wirst auch einmal aufgehängt wie dein Großvater, Kalkreuth.", "Schlag mich bitte, schlag mich ins Gesicht!", "Du wirst mich nie wieder los."), oder auch der zerhackenden Temposteigerung gegen Schluss.

Den Anfang des Romans bildet ein Epilog, abgefasst im Stil einer sachlichen Pressemeldung. Damit niemand auf abwegige Gedanken kommen könnte? Also erzähltechnisch einem vorangestellten "... und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende" vergleichbar? Ja und nein. Ja, weil somit gleich anfangs versichert wird, dass keine der Romanfiguren am Ende der Aufzeichnungen ihr Leben verloren haben wird. Nein, weil von "glücklich und zufrieden" (noch?) nichts durchschimmert. "Meere" ist schließlich kein Märchen, wenngleich märchenhafte Elemente vorhanden sind. Ein Menschenleben formt sich erfahrungsgemäß zumeist um Kompromisse herum, und sei es nach noch so vielen Ausschweifungen, Verwundungen und Fehlschlägen. Belassen wir es also einstweilen bei "... und sie lebten bis an ihr Lebensende", denn - wie vorhin bereits festgestellt - der Schmetterling wird erst noch schlüpfen.

Randbemerkung: Die wenigen Gemeinsamkeiten mit dem Denker Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), die sich ausfindig machen ließen: Jener ehelichte eine Dame namens Johanna, Herbsts Fichte verkehrt per E-Mail mit einer gleichnamigen "Zofe"; und Johann Gottlieb Fichte brach, wie Herbst selbst und sein alter ego Fichte, das Studium ab. Vielleicht werden Sie, spätestens nach der Lektüre von "Meere", dem nachstehenden Auszug aus einem Text von Johann Gottlieb Fichte einiges (an schaffenswütigen Parallelen) abgewinnen können:
" ... Er (der Mensch; Anm.) legt nicht nur die notwendige Ordnung in die Dinge; er gibt ihnen auch diejenige, die er sich willkürlich wählte; da, wo er hintritt, erwacht die Natur; bei seinem Anblick bereitet sie sich zu, von ihm die neue schönere Schöpfung zu erhalten. Schon sein Körper ist das Vergeistigtste, was aus der ihn umgebenden Materie gebildet werden konnte; in seinem Dunstkreise wird die Luft sanfter, das Klima milder, und die Natur erheitert sich durch die Erwartung, von ihm in einen Wohnplatz und in eine Pflegerin lebender Wesen umgewandelt zu werden. Der Mensch gebietet der rohen Materie, sich nach seinem Ideal zu organisieren und ihm den Stoff zu liefern, dessen er bedarf." (Aus "Über die Würde des Menschen, beim Schlusse seiner philosophischen Vorlesungen gesprochen von J. G. Fichte").

Dabei, sich dem Titel in seiner Tragweite anzunähern, leistet auch der DUDEN gute Dienste:
"Meer, das; -[e]s, -e [mhd. mer, ahd. meri, eigtl. = Sumpf, stehendes Gewässer]:
1. sich weithin ausdehnende, das Festland umgebende Wassermasse, die einen großen Teil der Erdoberfläche bedeckt
2. (geh.) sehr große Anzahl, Menge von etw.; Fülle (1) (meist in Verbindung mit dem Genitiv od. mit "von")
3. Mare (in Namen): M. der Ruhe."


Denis Scheck, der Herausgeber der "marebibliothek", schrieb einst auf der Netzseite des Verlags:
"Lesen bedeutet, tausend Leben führen zu dürfen, ohne tausend Tode sterben zu müssen. Am Anfang allen Lesens standen Geschichten vom Meer: ob im Gilgamesch-Epos, den Büchern der Bibel oder in der Odyssee. Seit Homers Zeiten ist das Meer eine Projektionsfläche für Sehnsüchte, Alpträume und Wunschvorstellungen aller Art. Geschichten vom Meer wollen heute neu und anders erzählt werden. Die marebibliothek bietet dafür ein Forum. Dabei ist der Begriff "Meer" so weit gefasst, dass Shakespeares Bild von Böhmen am Meer ebenso darin Platz finden könnte wie Rimbauds Poème de la Mer oder Kafkas Vorstellung vom gefrorenen Meer in uns. Die marebibliothek wird in neuen Texten zeitgenössische Sichtweisen des Meers von international bekannten Gegenwartsautoren präsentieren (...). Es gibt weder Umfangsbeschränkungen noch Vorgaben hinsichtlich Form oder Inhalt. Erlaubt ist alles, was uns gefällt."

Alban Nikolai Herbsts Buch mit seinen zahlreichen poetischen Meeres-Metaphern trägt diesem noblen Ansinnen gleichermaßen vollinhaltlich wie schonungslos-eigensinnig Rechnung - und das ist gut so.

(kre)


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Ein weiteres Buch des Autors:

"Traumschiff"

Das Leben ist ein Traum! Ist es das?
Gregor Lanmeister, einst ein erfolgreicher, wenn auch zweifelhafter Geschäftsmann, ist auf Weltreise an Bord eines Kreuzfahrtschiffes. Mit ihm reisen 144 Auserwählte, die das Schiff nicht mehr verlassen werden. Sie bleiben, um zu gehen. So wie er selbst - das wird ihm zunehmend bewusst. Minutiös beobachtet er das Geschehen an Bord und findet sich bald inmitten einer Gesellschaft eigenwilliger Persönlichkeiten wieder - da ist Monsieur Bayoun, sein Lehrmeister und Freund, der ihm ein geheimnisvolles Spiel hinterlässt; da sind die dralle, freche Frau Seifert sowie Kateryna, eine junge russische Pianistin, die er liebevoll Lastotschka, Feenseeschwalbe, nennt, außerdem ein schrulliger Clochard zur See und die stolze Lady Porto - sie alle und noch viele mehr nehmen mit ihm Abschied. Sodass er, von einer ihm vorher gänzlich fremden Sehnsucht erfasst, zu erkennen beginnt, was es mit diesem Sperlingsspiel auf sich hat. Über das Meer entdeckt Lanmeister den stillen Reichtum Leben, es eröffnen sich ihm immer neue Momente von märchenhafter Schönheit, bis Zeit und Meer, Vergänglichkeit und Traum zu einem rätselhaft entrückten Kosmos verschmelzen.
In seinem neuen Roman schlägt Alban Nikolai Herbst einen ungewöhnlichen, zärtlichen und gütigen Ton an. Geistreich, unmittelbar und humorvoll erzählt er vom Sterben als einem letzten großen Gesang auf das Leben. (Mare)
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Noch ein Buchtipp:

James Hanley: "Ozean"

Als die "Aurora" nach einem Torpedobeschuss sinkt, findet sich Joseph Curtain an Bord eines Rettungsbootes wieder, gemeinsam mit vier anderen Männern. Sofort übernimmt der erfahrene Seemann Curtain das Kommando und teilt Nahrungsmittel und Wasser ein. Als die Tage vergehen, treten die Stärken und Schwächen der einzelnen Männer hervor. Und der Wasservorrat schwindet, ebenso wie das Leben des schwerverletzten Priesters Father Michaels. Und noch immer kein Zeichen der Rettung ...
James Hanley wurde 1897 in Liverpool geboren. Er verfasste 31 Romane und zahlreiche Kurzgeschichten und Theaterstücke. Hanley verbrachte neun Jahre auf See, was sein Schreiben stark beeinflusste. Sein Roman "Boy" (1931) wurde der obszönen Verleumdung beschuldigt, was der Grund sein mag, warum der meisterhafte Autor und sein Werk der Vergessenheit anheim fielen. "Ozean" erschien 1941 bei Faber & Faber in London. James Hanley starb 1985. (Dörlemann)
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