Peter Handke: "Der Bildverlust"


"Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten.
(Miguel de Cervantes, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha)

Acht Jahre nach seinem "Jahr in der Niemandsbucht" bringt Peter Handke nunmehr ein weiteres Erzählwerk von gehöriger Länge, den Roman "Der Bildverlust" heraus.

Im Zentrum des Romans steht einmal mehr das Reisen. Die Reisende und damit Heldin des Romans, die Chefin eines Bankimperiums ("Geldmächtige" oder auch "Finanzfürstin" nennt sie der Autor im Zusammenhang mit ihrem Beruf, meist freilich unabhängig davon "Abenteurerin", oder einfach "Frau", oder auch "Idiotin") bricht von ihrem Wohnsitz am Rand einer nordwestlichen Flusshafenstadt auf in die Mancha zu einem dort lebenden Schriftsteller, den sie mit dem Schreiben eines Buches über sich selbst beauftragt hat, eines Buches weniger über biografische Fakten, schon gar nicht über ihren Beruf - vielmehr ist es ihre Art die Schönheiten der Welt zu würdigen und ihren Fährnissen zu begegnen, welche der Schriftsteller als Mittler dieses ihres Sendungsbewusstseins einer Leserschaft nahebringen soll. An sich schon eine längere Reise, wird sie von der Reisenden noch kräftig in die Länge gezogen: erst einen halben Tagesmarsch zu Fuß zum Flughafen, dann in die Luft, weiter mit dem selbstgelenkten Auto, abermals umgestiegen in einen Bus, schließlich zu Fuß die Überquerung der Sierra de Gredos, derart sind ihre Reiseetappen, ehe sie endlich, nach etlichen Nächten und schon auf den vorletzten Seiten des Buches, bei ihrem Autor eintrifft. Da das von diesem zu schreibende Buch (in der Annahme, es handelt sich um das, welches wir lesen) vor allem aus den größeren und kleineren Ereignissen ihrer Anreise besteht (ansonsten nur noch aus kurzen, den Erzählfluss unterbrechenden oder eher ergänzenden Ausschnitten aus ihrem Gespräch mit dem Schriftsteller nach der letztendlichen Ankunft), und diese in der Einstellung unternommen wird, es werde möglicherweise die letzte sein, handelt es sich dabei gleichzeitig um ein absichtliches Abenteuer, eine Art - könnte man auch sagen - von existentiellem Aktionismus.

Wie also ist in der heutigen Zeit (einer fremdbestimmten Geld- und Computer-Diktatur, wie Handke schreibt) echtes Reisen und in weiterem Sinne ein gutes, authentisches Leben möglich? Der Schlüssel liegt in der Heldin besonderer Wahrnehmung der sie umgebenden Wirklichkeit; ihr eignet ein klarer, vorurteilsfreier und in die Tiefe gehender Blick, durch den, weil seine intensive Gegenwärtigkeit nicht von vornherein scheinbar Unwesentliches ausklammert, das Bewusstsein der also Blickenden nicht durch Erwartungshaltungen oder um die eigene Person kreisende innere Monologe getrübt wird, sondern buchstäblich eins mit dem Beobachteten zu werden vermag.

Zunächst wird gezeigt, wie sich dieser Blick in der Sesshaftigkeit bewährt; wir erleben die Heldin in Haus, Garten und näherer Umgebung ihrer Vorortegegend, wo sie kaum Kontakt mit ihren mehr oder weniger dem weit verbreiteten mittel- und nordeuropäischen Isolationismus zum Opfer gefallenen menschlichen Nachbarn, umso regeren hingegen mit ihren tierischen pflegt, deren Körpersprache in ganze Sätze zu übertragen weiß. Überhaupt sieht sie sich und handelt als Teil der Natur, in deren wechselnden Gesichtern sie beinah im Stil einer Naturreligion (die gleichwohl die menschenkonstruierte Wirklichkeitsebene beinhaltet) Zeichen zu erkennen und zu deuten vermag, beispielsweise das zum Aufbruch.
Vollends bewährt sich diese direkte Wahrnehmung (und daraus resultierende spontane Reaktion) dann auf Reisen, wo das Unbekannte alltäglich ist, es der Abenteurerin in Form einer fremdartigen Stadt (der Autor flicht die Beschreibung der einen oder anderen Fantasiestadt, nicht zuletzt als Gegenmodelle gegen den immer globaler werdenden Typus, ein), einer plötzlichen Gefahr (hierbei hat die Heldin eine besondere Technik entwickelt, sie projiziert aus ihrem bilderreichen Unbewussten ein besonders starkes, die richtige Ladung bergendes Bild als Strahlschild zwischen sich und den Angreifer) oder gar sonstwie begegnet.

Eine weitere, richtig angewendet sehr hilfreiche Technik (und damit sei auch die möglicherweise aufkeimende Frage beantwortet, ob derlei Eigenschaften an einer Finanzlady wohl realistisch seien) ist natürlich die Sprache (in ihr findet sich die Glaubwürdigkeit). Anhand der kurzen Dialoge zwischen der Reisenden und dem Schriftsteller erhält man manchen Einblick in den Prozess ihrer Entstehung, als fortgesetztes Infragestellen in den Sinn kommender Ausdrücke, als Suche nach dem richtigen Wort oder als ausdrückliches Verbot der Benutzung eines anderen, manchmal verbunden mit einer gewissen Selbstironie, die allerdings nie den ernsthaften, feierlichen Grundton des Buches aufhebt. Ihrem fonetischen Aspekt und gleichzeitig dem Boden der Geschehnisse huldigen spanische und arabische Wörter, Tupfen im Teppich der deutschen Sprache. Und was ihren erzählenden Charakter betrifft, vermag sie in dem besonderen Fall von Peter Handke alle Eindrücke, Bilder, Stimmungen etc. so genau wie sinnlich auszudrücken, dass sie den Leser bald (ein Mindestmaß an kontemplativer Empfänglichkeit vorausgesetzt) auf eine sanfte Art in ihren Rhythmus zieht und 759 Seiten hindurch mit einer harmonischeren, Freiraum schaffenden und gewährenden Art zu leben vertraut macht.

(stro; 05/2002)


Peter Handke: "Der Bildverlust"
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2002. 759 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift"

Am 6. Mai 2008 macht sich Peter Handke auf den Weg nach Velika Hoča, eine serbische Enklave im südlichen Kosovo.
"Es drängte mich, den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle eines Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen und die Antworten dementsprechend mitzuschreiben."
Dort angekommen, erweist sich das klassische Frage-Antwort-Muster als ungeeignet: Nur im freien Reden erzählen sie ihre Erfahrungen, geben eigene Urteile preis und berichten von ihrem Leben, an diesem Ort und außerhalb. Und so verzichtet Peter Handke auf das Mitschreiben, besucht die Menschen zu Hause oder im Kneipen-Container "Rambouillet".
Nach der Rückkehr verfasst Peter Handke eine Nachschrift seines einwöchigen Aufenthalts in der Enklave. Zum ersten Mal liegt damit ein journalistisch-literarisches Porträt der Menschen und der Lebensbedingungen in einer serbischen Enklave im unabhängigen Kosovo vor, ein eindringliches, lebhaftes, zwischen Resignation und Hoffnung sich aufspannendes Panorama von Velika Hoča. Und wie es um die Kuckucke dort und in ganz Mitteleuropa bestellt ist - auch das erklärt diese Nachschrift. (Suhrkamp)
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"Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts"
"Bis daß der Tag euch scheidet: Eine Antwort auf "Das letzte Band" von Beckett? Eher ein Echo. Ein Echo jetzt fern, im Raum und auch in der Zeit, jetzt ganz nah an Herrn Krapp, dem einsamen Helden des Stücks von Samuel B. Ein Echo jetzt schwach und widersprüchlich, verzerrt, jetzt stark, verstärkt, vergrößert. Deshalb wage ich es, diesen Echo-Monolog ein Drama zu nennen, ein sehr kleines Drama - so wie Das letzte Band ein Drama ist, ein großes.
Kann es sein, daß nach Beckett nur noch unsere sekundären Stücke gekommen sind, wie zum Beispiel, als Beispiel, eben Bis daß der Tag euch scheidet? Keine Reduktion mehr möglich, kein Null-Raum mehr möglich - nur noch Spuren der Verirrten - hier der 1 Verirrten? Aber man mußte sich, wir mußten uns vielleicht verirren, im Interesse der Szene, im Interesse des Theaters? 'Echo', wenn ich mich recht erinnere, bezeichnet in der griechischen Mythologie auch eine Person, eine kleine Göttin oder eine Nymphe - auf jeden Fall aber eine Frau, die Stimme einer Frau."
(Aus dem Nachwort von Peter Handke.) (Suhrkamp)
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"Die morawische Nacht. Erzählung"
Ein Autor auf einem Hausboot und seine Gäste. Die balkanischen Flüsse. Eine seltsame Frau.
Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluss der Donau, ein Hausboot auf dem Fluss. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum blauenden Tagesbeginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hotelschiff, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat.
Die erste Überraschung erleben die Bekannten gleich beim Betreten des Boots: Der für seine Distanz zu den Frauen berüchtigte Ex-Autor empfängt sie in Begleitung einer - Angestellten?, Gefährtin?, Geliebten? Auf das Abendmahl folgt eine lange Erzählung, in der die Stimme des Autors dominiert, in die sich zuweilen die Stimmen der anderen männlichen Anwesenden einpassen. Von einer gerade beendeten Rundreise des Bootsbesitzers durch das westliche Europa handelt die Erzählung. War er wirklich auf der Flucht vor einer Gefahr, etwa vor einer Frau, die ihm mit dem Tod drohte? Wie hat man sich das Symposium über den Lärm vorzustellen, an dem er angeblich in Spanien teilgenommen hat? Was hat es mit dem Treffen aller Maultrommelspieler dieser Erde vor Wien auf sich? Warum will er gerade zu diesem Zeitpunkt den Wohnort seines verstobenen Vaters in Deutschland aufsuchen? Und wo hat er die Frau getroffen? Und überhaupt: Wie lange dauerte die Reise?
In dieser romanlangen Erzählung Peter Handkes nimmt die Wirklichkeit unserer Gegenwart immer bedrückendere Gestalt an. Gleichzeitig wird das Gewicht der Welt ein anderes - ein leichteres?
Was nun erwartet den Leser? Ein "nächtliches Buch"? "Nicht wenige solcher nächtlichen Bücher hatte der Autor im Lauf seines Lebens verfasst, die vom Tageslicht in nichts aufgelöst worden waren. In nichts? Wirklich?"
Peter Handkes Text hat bei seinem Erscheinen Kritiker und Publikum entzückt und überrascht. Die Geschichte eines ehemaligen Autors - der auf der Suche nach seinem verlorenen Selbst durch Europa reist, das Grab seines Vaters und seiner Mutter besucht, seinen Bruder, Politiker, Schulkameraden, Dichterkollegen trifft und mit Romanfiguren spricht, um am Ende wieder zu seinem Hausboot "Morawische Nacht" in Porodin zurückzukehren und mit Freunden zu feiern - ist ein Buch über Revision und Versöhnung. Gedanklich weit und episch reif, zeichnet sich das Werk durch wunderbare Reise-Episoden, Meditationen und Alltagsbeobachtungen aus. (Suhrkamp)
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Noch ein Buchtipp:

Fabjan Hafner: "Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land"

Slowenien, die Slowenen und das Slowenische sind zentrale Themen, die das Werk von Peter Handke, einem der wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, prägen. Von den "Hornissen" (1966) bis in die jüngste Gegenwart ist dieses Motiv explizit und assoziativ in Handkes Texten präsent. Gleich den Sickerflüssen im Karst, die auch dann Untergrund und Basis bilden, wenn sie nicht an der Oberfläche zu sehen sind, gründen Handkes Werke auf diesem Lebensthema. In seiner Studie und Biografie begleitet Fabjan Hafner den Leser durch die unterschiedlichsten Texte und Zeiten. Er zeigt anschaulich, dass der Themenkreis des Slowenischen eine inhaltliche Klammer um das Gesamtwerk Handkes bildet und einen inneren Zusammenhang auf mehreren Ebenen herstellt: familiäre Konstellationen und Figuren werden variiert und gespiegelt, geografische Bezüge hergestellt, die den mythischen Bezirk und Mikrokosmos verdeutlichen, in dem sich der Autor bewegt. (Zsolnay)
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