Ilana Hammerman, Jürgen Nieraad: "Ich wollte, dass du lebst"

Eine Liebe im Schatten des Todes


Wie wollen wir leben, und wie wollen wir sterben? Was ist der Sinn unseres Daseins, und ab welchem Alter oder welchem Stadium der Schwäche oder des Verfalls beginnt es seinen Sinn zu verlieren?

Diese existenziellen Fragen haben den deutschen Literaturwissenschaftler Jürgen Nieraad beschäftigt, seit er die Altersgrenze der 40 überschritt. Seine Begegnung mit der israelischen Lektorin und Übersetzerin Ilana Hammerman, seine Liebe zu ihr, ein über Jahre erfülltes Leben mit dem neugeborenen Sohn und viel gemeinsamer intellektueller Arbeit in Israel und Deutschland drängten diese Gedanken über eine lange Zeit zurück.

Doch obwohl Jürgen Nieraad ein gutes Leben führt, in seiner Ehe glücklich ist und die Verantwortung für den gemeinsamen Sohn spürt, obwohl er in seiner wissenschaftlichen Arbeit aufgeht und sich im Schreiben regelrecht verlieren kann, beginnen, als er sich seinem sechzigsten Lebensjahr nähert, seine Gedanken wieder um das Alter und den Tod zu kreisen, einen Tod, den er sich immer als selbstbestimmten Endpunkt ausgemalt hat. Er plädiert leidenschaftlich - unter Verweis auf Jean Améry, mit dem er sich aber ausdrücklich nicht vergleichen will - für das Recht eines jeden Menschen auf einen selbstgewählten und selbstbestimmten Tod. In Nieraads Fantasie besteigt er, solange er das physisch noch kann, einen Berg in den Alpen, um dort oben im Schnee nach der Einnahme einer Portion Schlafmittel, die er schon seit einem Jahrzehnt gesammelt hat, zu erfrieren. Er kennt und nennt in seinen Gedanken zwar die Argumente dagegen (Verantwortung gegenüber Frau und Kind etc.), aber er besteht auf seinem Recht auf Freitod.

Anfang 2000 beginnen diese Fragen für ihn keine bloß theoretischen mehr zu bleiben. Während eines mehrwöchigen Auslandsaufenthaltes seiner Frau Ilana in Berlin lässt Nieraad sich in Jerusalem von einer Ärztin untersuchen, die er nach schlimmen Beschwerden aufgesucht hat. Sie diagnostiziert Leukämie und gibt ihm noch zwei bis drei Monate.

Nieraad bucht sofort ein Ticket nach München, weiht eine enge gemeinsame Freundin in seine Absichten ein, und will von München aus auf den Berg steigen, ohne sich von seiner Frau zu verabschieden. Er hält das für sein gutes Recht. Doch unterwegs wirken die Worte der Freundin in ihm nach und er verlängert seinen  Flug nach Berlin, wo Ilana Hammerman, als er Stunden später in ihrer Tür steht und sagt: "Ich bin krank", sofort weiß:
"Das war's. Nichts wird mehr so wie früher. Nie mehr. Es ist passiert. Der Tod ist wirklich hier ... ich versteinere ..."

Ihr gelingt es, ihren Mann davon zu überzeugen, sich doch wenigstens genauer untersuchen zu lassen, die Chancen gewissenhaft abzuwägen und ihn von seinem Freitodansinnen abzubringen. Später wird sie sich in ihren Aufzeichnungen, die sie vier Monate nach dem Tod Jürgen Nieraads beginnt, oft fragen, ob sie dazu das Recht hatte, und in welche freigewählten Abhängigkeiten sie sich beide begeben haben, indem sie zurückflogen nach Jerusalem und die Ärzte erneut konsultierten.

Das vorliegende Buch, das nach seinem Erscheinen 2001 in Israel eine lebhafte öffentliche Diskussion über den Umgang mit dem Tod ausgelöst hat, ist eine gnadenlose und erschütternde Dokumentation menschlichen Leidens und menschlicher Kraft.

Jürgen Nieraad schreibt, so wie er es ein Leben lang gewohnt ist, all seine Erfahrungen auf. Da er ein Mensch ist, der abschalten und auch in schwierigen persönlichen Situationen sein Leben noch genießen kann, indem er das, was ihn von außen bedrängt nach dorthin wieder verdrängt, ist er in den Monaten bis zu seinem Tod in der Lage, zusammen mit seiner Frau noch ein Buch über Friedrich Nietzsche zu schreiben, einen Philosophen, der beiden einen große Lebensstütze ist.

Nieraad zitiert wiederholt aus den Büchern Jean Amérys, um seine Erfahrungen zu beschreiben. Und er quält sich ab mit dem berühmten Essay von Susan Sontag "Krankheit als Metapher", in dem sie brillant den Zusammenhang von Krankheit und Strafe entkoppelt, besonders am Beispiel von Krebs. Solange für die Krankheit kein wirksames Gegenmittel entdeckt sei, so Sontag in ihrem Originaltext, werde Krankheit mythologisiert und psychologisiert. Sei die Krankheit, z.B. Krebs, früher als eine Strafe Gottes erachtet worden, so sei sie jetzt in der säkularen, nichtsdestoweniger mythologisierten Welt eine Strafe für ungesunde Lebensführung. Sie setzt sich besonders mit den Forschungen und Thesen von Wilhelm Reich auseinander, widerspricht aber heftig seiner These, die Krebs fast ausschließlich als Produkt unterdrückter Gefühle auffasst.

Ilana Hammerman weiß, dass ihr Mann schreibt, liest seine Aufzeichnungen aber erst nach seinem Tod. Als sie wieder einigermaßen zu Kräften gekommen ist, setzt sie sich hin und schreibt ihrerseits auf, wie sie die letzten Monate des gemeinsamen Lebens erlebt hat, angefangen von jenem Moment, als ihr Mann in Berlin in der Tür stand und sagte: "Ich bin krank."

Das Buch ist ein literarisches Zeugnis eines gemeinsamen Kampfes gegen die Krankheit und gleichzeitig ein Dokument über den Wahnsinn der modernen Intensiv- und Strahlenmedizin. Es zeigt, wie schnell selbst bewusste Menschen in eine Abhängigkeit geraten, aus der sie nicht mehr herauskönnen.

"Ich wollte, dass du lebst" ist aber auch ein Buch, das von der Hoffnung auf Leben erzählt, die einfach nicht zum Schweigen zu bringen ist. Ein Buch, das die Stärke einer Liebe beschreibt und die Kraft, die in der Poesie liegt, wenn man sie denn zu einem sprechen lässt.
Ein Buch von hohem literarischem Niveau, von dem ich hoffe, dass es im deutschsprachigen Raum eine ähnliche Diskussion auslösen wird wie in Israel.

(Winfried Stanzick; 10/2005)


Ilana Hammerman, Jürgen Nieraad: "Ich wollte, dass du lebst"
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer.
Aufbau-Verlag, 2005. 268 Seiten.
ISBN 3-351-02606-4.
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Ilana Hammerman wurde in Haifa geboren und lebt in Jerusalem; sie ist eine der wichtigsten Übersetzerinnen deutscher und französischer Literatur und arbeitet als Lektorin in einem großen literarischen Verlag.