Ernst-Wilhelm Händler: "Die Frau des Schriftstellers"


Machtspiel zwischen Buchdeckeln

"Der Schriftsteller sagt ich, auch wenn er gar nicht ich sagt. Jede Figur ist immer er. Der Schriftsteller sagt immer ich."
(Seiten 28f.)

Ernst-Wilhelm Händler ist ein deutscher Unternehmer und Schriftsteller. Neben seiner regulären Arbeit als Geschäftsführer des metallverarbeitenden Familienunternehmens schrieb er bisher fünf Romane und einen Erzählband. Er meistert die Sprache und die Struktur eines gewichtigen Romans als Wirtschaftskapitän: den hierarchischen Ebenen des Unternehmens Roman teilt er Funktionen zu, entzieht ihnen bei Misserfolg Vertrauen und Rechte, entlässt sie und setzt an ihre Stelle neue Kräfte. Die Sprache macht er zum Herrschaftsinstrument, durch sie erzeugt er Zusammenhänge und letztlich Macht.

Der Ich-Erzähler, ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller, steht sichtlich unter Schock: Erschüttert friert er mitten in der Nacht unter der Dusche seiner Münchner Wohnung, das heiße Wasser verbrennt ihm fast die Haut. Zuvor war er zufällig dem einflussreichen Literaturagenten La Tremoïlle. begegnet, den er eigentlich nie wieder treffen wollte: die schlimmste Erinnerung seines Lebens holte ihn wieder ein. Im Auftrag des renommierten Guggeis-Verlags wollte ihn La Tremoïlle vor einiger Zeit abwerben und machte ihm ein lukratives Angebot, das aber an eine seltsame Bedingung gebunden war: Er sollte das Romanmanuskript eines anderen, weit erfolgreicheren Autors, Tonio Pototsching, selbst fertig stellen. Er ahnt nicht, dass Pototschings Manuskript seine eigene, detailreich recherchierte Kindheit und Jugend in Oberösterreich enthält. Zusehends raubt Pototsching die Biografie des Ich-Erzählers. Laura, die Noch- oder Exfreundin Pototschings, ebenfalls Schriftstellerin und einzige Person, die dessen Handschrift lesen kann, verführt nun den Rivalen. Der Machtkampf um Frau, Verlegergunst, Buch und Biografie beginnt ...

Auf 640 Seiten entwickelt Händler ein kompliziert konstruiertes Spiel der Textebenen. Mit Eleganz und Erzähltechnik manövriert er die Leser durch die Ich-Erzählung, durch Träume und Erinnerungen, durch Reflexionen, E-Mails und die Handlungen der Bücher der involvierten Schriftsteller und wieder zurück zur Biografie des Erzählers. Diese Verschachtelung ist eine Herausforderung für die Leser, so mancher Zwischentext hätte kürzer und zügiger ausfallen können. Allzu leicht gerät eine Lesepause zur Suche nach dem roten Faden.

Neben Handlungen und Ebenenspiel in der Textkonstruktion hat der Roman einige historische und literarische Bezüge parat: Die weiblichen Hauptfiguren heißen nach den Protagonistinnen im Werk von Dante und Petrarca Beatrice und Laura, der mephistophelische Literaturagent La Tremoïlle trägt den Namen eines französischen Kriegsherrn des 16. Jahrhunderts, die oberösterreichische Heimat des Erzählers liegt nicht weit weg von Thomas Bernhards Ort der Auslöschung. Auch Rex Gildo kommt vor.

"Die Frau des Schriftstellers" ist ein umfassendes und kluges, aber kein einfaches Werk.

(Wolfgang Moser; 11/2006)


Ernst-Wilhelm Händler: "Die Frau des Schriftstellers"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2006. 640 Seiten.
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Ernst-Wilhelm Händler wurde 1953 in München geboren. Er studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. 1999 wurde Ernst-Wilhelm Händler mit dem "Erik-Reger-Preis" ausgezeichnet.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Sturm"

Ein Buch über die Macht und ein Buch über die Gewalt der Sprache. Ein Roman über deutsche Mentalitätsgeschichte und einen vornehmlich deutschen genialen Künstlertypus. Und ein Buch über das Vordringen des Virtuellen.
Suttung, studierter Mathematiker und Computerwissenschaftler, ist Sohn eines berühmten deutschen Kunsthändlers und Enkel eines noch berühmteren deutschen spätimpressionistischen Malers. Mit zwanzig verließ er seine Heimat, um in die USA zu gehen, wo er Karriere als Softwarespezialist in einem bedeutenden Computerunternehmen macht. Suttung "dachte niemals daran, nach Deutschland zurückzukehren".
Während eines Kurzurlaubs an der Küste Neuenglands trifft Suttung auf eine geheimnisvolle Frau, Sieglinde, eine deutsche Architektin, die ihn einer zweiten, attraktiven Frau, Mechthild, ebenfalls eine Deutsche, vorstellt. Sie machen ihm ein Angebot: Suttung soll im Auftrag des Immobilienunternehmers Arbogast für den größten Architekten Deutschlands, Hant, eine neuartige Software entwickeln, die die menschliche Konstruktions- und Planungsleistung reproduziert und somit künftig überflüssig macht, um auf dieser theoretischen Grundlage dann Systeme und Roboter zu konstruieren, die einmal in der Lage sein werden, jegliche menschliche Arbeit zu ersetzen.
Suttung nimmt das Angebot an und begibt sich auf die Reise nach Deutschland: Er gerät plötzlich in eine andersartige, eine dunkle Welt. Mechthild und Sieglinde machen ihn mit Arbogast bekannt, und endlich trifft er auf Hant, den berühmten Architekten, der ihm in ebenso faszinierenden wie unheimlichen, ausufernden Monologen seine Idee von der Welt und seiner Stellung in ihr mitteilt. Suttung ist begeistert von Hant, dem Monomanen und Perfektionisten, den ein schier unwiderstehliches Charisma umgibt. Warum jedoch verfolgt dieser ruhelose Künstler seine Ziele mit derart grausamer Konsequenz? Und wohin führt sein Genie, seine selbstgerechte und unbeugsame Art, anderen seine Ideen aufzuzwingen, seine maßlos falsche Vorstellung von Größe? Aus Suttungs anfänglicher grenzenloser Bewunderung wächst Zweifel, dann Widerwillen. Er begreift die Ideologie Hants als etwas Monströses und Bedrohliches, das zum Untergang der ihm bekannten Kultur führen würde, wenn er sich nicht selbst zum Handeln entschließt.
"Sturm" führt den Leser ein in die Welt der Architektur und des Geschäfts mit ihr, zeigt den Künstler als Machthaber. Imponierend die Gestalt des größten Architekten aller Zeiten, Hant, der als Destillat eines bestimmten erfolgreichen, vornehmlich deutschen Künstlertypus erscheint. Hants ehrgeiziges und schließlich verzweifeltes und blindes Wüten auf der Erde, das Abreißen und Zerstören des Vorhandenen ist grausam und faszinierend zugleich. Hant repräsentiert das Funktionieren von Macht und den Missbrauch der - deutschen - Sprache sowie einen bestimmten dunkel-deutschen Trieb. "Sturm" ist ein Roman über Deutschland und über dessen Vergangenheit: eine deutsche Mentalitätsgeschichte. (Frankfurter Verlagsanstalt; dtv)
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"Wenn wir sterben"
Deutschland, München, Ende der 1990er Jahre: Es begegnen uns vier Frauen, energische, attraktive, in ihrem Berufsleben erfolgreiche Mittvierzigerinnen, wichtige Führungspersonen der Industrie. Alle vier sind auf dem Höhepunkt und gleichzeitig am Scheidepunkt ihrer beruflichen Karrieren angelangt, haben das Alter für große Entscheidungen erreicht. Charlotte, eine arrivierte Managerin, macht sich mit der Hilfe zweier befreundeter Geschäftsfrauen, Christine und Bär, selbstständig, sie kauft eine mittelständische Firma. Durch eine gemeine Intrige ihrer engsten Mitarbeiterin erleidet Charlotte ihren persönlichen Ruin, verliert die Firma. Doch die neue Inhaberin Christine, Stine genannt, kann das Unternehmen nicht lange halten. Ein "Joint-venture", von dem sie sich Zugang zum Weltmarkt verspricht, erweist sich als geschickter Schachzug einer anderen erfolgreichen Geschäftsfrau, Milla. Jetzt stirbt Stine ihren ökonomischen Tod, wird Opfer einer ihr überlegenen Frau. Dieser Roman Ernst-Wilhelm Händlers, den nicht wenige als die wirklich herausragende Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen, schildert in großer Detailtreue die Karriere von vier Geschäftsfrauen, von denen nur eine "überlebt". Händler zeigt mit exemplarischen Lebensgeschichten, wie die moderne Industriegesellschaft den Menschen entwurzelt und deformiert: Menschliche Existenz hat nur noch ökonomischen Sinn. Materielle Begehrlichkeiten und materielle Zwänge haben das Wesentliche verdrängt. Wirtschaftsprozesse prägen statt dessen unsere Entscheidungen und instrumentalisieren das Leben. Jene, die die oberen Sprossen der Karriereleiter erklommen haben, haben alles Menschliche eingebüßt und handeln provisorisch in der Logik ihrer Funktionen; sie kämpfen mit allen Mitteln um ihren eigenen Erfolg.
Formal entspricht der Roman genau seinem Inhalt. Handelt "Wenn wir sterben" von Gesetzen und ökonomischen Abläufen in der deutschen kapitalistischen Wirtschaftswelt, die in einem gewissen Sinne alles Bestehende an sich reißt, benutzt der Autor die formale Ebene seines Romans, um fremdes Schreiben dem eigenen Schreibprozess anzuverwandeln: Jede Person in dem Roman denkt, fühlt und handelt in einer eigenen Sprachwelt. So entsteht zugleich eine Enzyklopädie der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Frankfurter Verlagsanstalt)
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Noch ein Buchtipp zum Thema Satire auf den Literaturbetrieb:

Klaus Modick: "Bestseller"

In Tante Theas Koffer findet ihr Erbe, der mittelmäßig erfolgreiche, finanziell jedoch chronisch klamme Schriftsteller Lukas Domcik, ein Konvolut mit Aufzeichnungen aus ihrer Jugend in den dreißiger und vierziger Jahren. Zunächst kann er mit dem unsäglichen Backfischgeschreibsel der glühenden Nazisse und späteren reuigen Sünderin nichts anfangen. Doch dann lernt er die schöne Maskenbildnerin Rachel kennen und gerät in erotische Wallung. Um ihr ganz, ganz nahe zu kommen und um endlich auch mal das ganz, ganz große Geld zu machen, entwirft er einen genialen Plan: Mit der überaus fernsehtauglichen Rachel als vorgeschobener Autorin, die die Geschichte ihrer vorgeblichen Oma erzählt, lässt sich mit leichter Hand und reichlich Chuzpe aus dem mediengerechten deutschen Schicksal der Tante Thea ein anrührender Weltbestseller verzapfen. Doch im Rausch seiner Amour fou verliert Domcik schon bald die Übersicht - und die Fäden seiner attraktiven. (Eichborn)

Leseprobe:
Höchste Zeit, die Wahrheit zu sagen. "Nichts als die Wahrheit" (Dieter Bohlen). Um falschen Erwartungen vorzubeugen, gebe ich allerdings zu bedenken, daß es "die" Wahrheit nicht gibt, sondern bestenfalls meine subjektive Wahrheit der leidigen und extrem dumm gelaufenen Affäre. Die "volle" oder "ganze" Wahrheit ergäbe sich vielleicht, wenn alle Beteiligten ihre Sicht der Sache darlegten; aber es wäre von mir zuviel verlangt und Ihnen als Leser nicht zumuten, all diese Hochstapler und Schwadroneure, Schaumschläger und Betriebsnudeln noch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Die "reine" Wahrheit also? Unmöglich. Außer in der Waschmittelwerbung ist auf dieser Welt rein gar nichts rein, nicht einmal das sprichwörtliche Glas Wasser, das bekanntlich von Bakterien nur so wimmelt. Die "nackte" Wahrheit womöglich? Kommt nicht in Frage! Das Wort "nackt" hat mir noch nie gefallen. Es klingt brutal und hoffnungslos unerotisch, verbirgt nichts, verspricht also auch nichts, lähmt die Phantasie, vernichtet die Verlockung und damit das Begehren. Davon scheinen sogar diejenigen eine Vorstellung zu haben, von denen man es am wenigsten erwarten würde: die FKK-Freaks. Sie bemänteln ihr bloßes Treiben ja nicht etwa mit dem Begriff Nacktkörperkultur, sondern bemühen die Freikörperkultur (Kultur!) oder, beinah schon schamhaft bedeckt, den Nudismus.

Nehmen wir als beliebiges Beispiel die Nacktschnecke. In Kräuter- und Gemüsebeeten treibt sie ihr schleimiges Unwesen und unersättliches Vernichtungswerk, und bei allem Respekt vor der Kreatur als solcher will es mir einfach nicht gelingen, die gemeine erotischer, wenn sie, wie minimalistisch auch immer, bekleidet sind statt, Entschuldigung, nackt ausgezogen. Angezogen, jedenfalls ein bißchen angezogen, wirkt einfach anziehender. (...)
Aufs sogenannte Regietheater beispielsweise muß ich leider später noch ausführlicher zu sprechen kommen. Wenn mein Hausarzt beim jährlichen Rundumcheck zu mir sagen würde: Bitte ziehen Sie sich mal nackt aus, würde ich mich gleich wieder anziehen und die 10 Euro Praxisgebühr zurückverlangen. Das weiß oder ahnt der Arzt natürlich und sagt also vorsichtshalber: Bitte machen Sie sich ganz frei. Diese Formulierung darf man allerdings auch nicht allzu streng beim Wort nehmen, weil man sonst zügig depressiv werden könnte. Man strebt sein ganzes Leben danach, sich frei zu machen und frei zu werden, beispielsweise von den sogenannten gesellschaftlichen Zwängen, vom chronischen Ärger über die Literaturkritik oder von seinen Schulden bei der Bank, sucht seit Kant emsig nach dem Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und rennt dabei, wenn man Glück hat, offene Türen ein. Wenn man Pech hat, also meistens, geht man aber nur mit dem Kopf durch die Wand und landet dann in irgendeinem Nebenzimmer. Vor der nächsten Wand.

Trotzdem mache ich mich lieber ganz frei als nackt. Oder gar splitternackt. Splitterfasernackt. Es entbehrt jeder Logik, aber das widerliche Wort ist tatsächlich steigerungsfähig, so unsinnig steigerungsfähig wie Wahrheit, reine Wahrheit, nackte Wahrheit. Ich meine, wahr ist wahr, und nackter als nackt geht doch gar nicht. Das wäre sonst ja schon fast Obduktion und Vivisektion. Übrigens klingt die Sache nicht nur übel, sondern sieht auch fast immer unerfreulich aus. Selbst die schönsten Frauen - ich komme auf das Thema gleich noch ausführlicher, Geduld! - wirken erotischer, wenn sie, wie minimalistisch auch immer, bekleidet sind statt, Entschuldigung, nackt ausgezogen. Angezogen, jedenfalls ein bißchen angezogen, wirkt einfach anziehender.

Okay, ich weiß natürlich, daß die Floskeln von der "ganzen", "reinen" und "nackten Wahrheit" nur Metaphern sind. Ich mußte aber diese kleinkarierte Klärung der Begriffe vorausschicken, damit Sie erstens wissen, was ich unter Wahrheit verstehe, und sich zweitens nicht der Illusion hingeben, daß ich mir hier, wiederum metaphorisch gesprochen, die Brust aufreiße, um mit Herzblut zu schreiben, oder gar, wie man so sagt, die Hosen herunterlasse, um Ihnen Einblicke ins säuische Getümmel meiner Obsessionen zu gewähren. In eigener Sache kann ich höchst diskret sein. Für diesen Bericht habe ich gute Gründe, aber irgendwelche nackten Wahrheiten meiner Abgründe dürften der Wahrheitsfindung entschieden abträglich sein. Von bizarren, der Mitteilung werten sexuellen Phantasien werde ich im übrigen auch gar nicht verfolgt, und meine erotischen Wunschvorstellungen regen sich auf einem eher unspektakulären Niveau. Zum Beispiel finde ich Frauen mit kleinem Busen ungleich attraktiver als Trägerinnen quellender Oberweiten, was mich etwa von Heimito von Doderer unterscheidet, der ja geradezu närrisch nach üppigen Großeutern war, weshalb das Titelkürzel seines Romans Die Dämonen, DD nämlich, häufig als Kürzel für "Dicke Damen" interpretiert wurde. Auch sein Faible für Sahnetorten, das tiefenpsychologisch vermutlich mit seinem Busenfetischismus verkoppelt war, ist mir fremd: Ich bevorzuge ofenfrischen Butterkuchen ohne Sahne. Ich meine, nichts gegen Doderer, der zwar nicht alle Tassen im Schrank hatte, aber erstklassige Romane und Tagebücher geschrieben hat, worin er mir nun wiederum geistesverwandt ist; aber das, was mich sonst noch mit ihm verbindet, lasse ich auf sich beruhen, sonst komme ich zu spät oder gar nicht auf den Punkt. Zwar habe ich die Wahrheit versprochen, und die ist nicht unkompliziert, aber langweilen möchte ich Sie natürlich auch nicht, obwohl die Wahrheit meistens entsetzlich langweilig und unglaubwürdig ist. Um sie interessant und glaubwürdig zu machen, saugt sich unsereiner Fiktionen aus den Fingern. Um wahr zu wirken, muß die Wirklichkeit gefälscht werden. Das ist das ganze Geheimnis der Literatur. Und im Fall meines Bestsellers hat es ja im Grunde auch bestens funktioniert. Daß die Welt, die betrogen werden will, empört "Betrug" schreit, wenn sie dahinterkommt, erfolgreich betrogen worden zu sein, empfinde ich als schizophren - aber um auf den Punkt zu kommen, greife ich jetzt vor, was den Punkt auch zuverlässig verfehlt. (...)
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