Arnon Grünberg: "Gnadenfrist"


Der niederländische, zeitweise auch in New York lebende Schriftsteller Arnon Grünberg ist immer für einen interessanten, außergewöhnlichen und nicht selten auch skurrilen Handlungsverlauf gut.

Grünberg, der in den 1990er-Jahren nach seinem Debütroman "Blauer Montag" von der Kritik als absoluter Senkrechtstarter gefeiert wurde und unter dem Namen Marek van der Jagt zwei weitere vielbeachtete kleine Romane vorgelegt hat, (alle bei Diogenes erschienen), siedelt die Handlung seines Romans "Gnadenfrist" im Peru der Jahre 1996 und 1997 und verknüpft das skurril-hoffnungslose Schicksal seines Protagonisten mit einem realen Ereignis, das weltweit für Aufsehen sorgte.

Jean Baptist Warnke ist Diplomat. Nach Jahren des Dienstes in der niederländischen Botschaft in Südafrika lebt er nun seit einigen Jahren mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Perus Hauptstadt Lima, wo er in der dortigen niederländischen Botschaft der "zweite Mann" ist.
Er schiebt eine ruhige Kugel, hält sich aus allem heraus. Man droht beim Lesen des Lebens dieses Mannes fast einzuschlafen ob seiner tödlichen Langweiligkeit und Spießigkeit. Wie Grünberg die inneren Monologe und Dialoge von Warnke schildert, ist absoluter Lesegenuss, wenn man einmal mit dem an Nihilismus grenzenden Stil Grünbergs warm geworden ist.

Warnke geht, nachdem er am Nachmittag mit dem Botschafter die obligatorische halbe Flasche Riesling getrunken hat, jeden Tag ins Café, um die "Newsweek" zu lesen. Dort trifft er eines Tages Malena, eine einheimische junge Frau, die ein auffälliges Interesse an Warnke zeigt und ihn schlussendlich auch ins Bett bekommt.
Warnke ist geschmeichelt ob dieses Begehrtwerdens und merkt nicht, was dem Leser nach einigen Seiten deutlich ist: Malena ist Mitglied der ländlichen peruanischen Widerstandsbewegung "Movimento Revolucionario Tupac Amaru", einer Organisation, die sich Anfang der 1990er-Jahre mit den eher städtisch-intellektuellen, streng maoistisch organisierten "Sendero Luminoso" zusammenschloss.

Warnke verliebt sich in Malena, schreibt ihr sentimentale Gedichte und gibt jede Woche ein Päckchen für sie auf. Nicht selten befindet sich darin Sprengstoff. Doch Warnke stellt keinen Zusammenhang zwischen seinen Botendiensten und den zahlenmäßig zunehmenden Anschlägen auf niederländische Objekte her.
Kurz vor Weihnachten rät Malena ihm, den Weihnachtsempfang der japanischen Botschaft zu meiden. Warnke kann, ohne es groß begründen zu müssen, sogar seinen Botschafter davon überzeugen, dass es besser sei, nicht hinzugehen.

Am 17. Dezember 1996 dringt ein schwer bewaffnetes Kommando der Rebellen in einen Empfang in der Residenz des japanischen Botschafters in Lima ein. Von den 483 Geiseln werden noch am ersten Tag 200 Personen, meist Frauen, freigelassen. Während der lang andauernden Besetzung lassen die Rebellen immer weitere Geiseln frei. Doch die Regierung des japanischstämmigen Präsidenten Alberto Fujimori, (er gewann 1990 die Wahl gegen den Schriftsteller Mario Vargas Llosa), bleibt beinhart und lässt am 22. April 1997 die Armee die Botschaft stürmen und alle Geiselnehmer erschießen. 71 Geiseln werden befreit.

Seit Beginn der Besetzung hat Warnke von Malena nichts mehr gehört, und noch immer stellt er keinen Zusammenhang her. Der Regierung in Den Haag kommt es langsam spanisch vor, dass kein niederländisches Botschaftspersonal von der Geiselnahme betroffen war. Warnke redet sich solange heraus, bis der Botschafter ihn mit geheimen Bildern von den Treffen mit Malena konfrontiert und ihn zur Demission zwingt. Warnkes Frau kehrt entrüstet nach Holland zurück und reicht die Scheidung ein. Warnke sackt ab, zumal, nachdem er auf den Bildern von der Befreiung die von ihm schwangere Malena unter den getöteten Geiselnehmern identifiziert hat.

Eines Tages trifft er, mittlerweile auf der Straße lebend, einen Kollegen Malenas wieder, den er am Anfang ihrer Beziehung auf einem als Chorprobe getarnten Fest der Rebellen kennengelernt hat. Und auch er, Warnke, geht nach diesem Treffen dem sicheren Tod entgegen ...

Schon der Protagonist in Grünbergs vorigem Roman "Der Vogel ist krank" findet ein tödliches Ende. Auch in "Gnadenfrist" scheint der einzige Ausweg aus einer absolut sinnlos erlebten Existenz ein genauso sinnloser Tod zu sein.

Dieser Roman ist unterhaltsamer zu lesen als der vorige, der den Leser von Anfang bis Ende angesichts irritierend-hoffnungsloser Figuren eher deprimierte. Und doch irritiert auch hier das Ende.

Grünbergs sarkastisch-grotesker Stil, bis hin zum absolut Nihilistischen, das gar keinen Sinn in einer als sinnlos empfundenen Welt erkennen will, ist keine leichte Kost für Menschen, die doch einen großen Teil ihres Lebens damit verbringen, einen solchen Sinn immer wieder zu entdecken und ihren Kindern zu vermitteln. Dennoch ist die Lektüre dieses Buches eine interessante und nicht selten auch amüsante Herausforderung.

(Winfried Stanzick)


Arnon Grünberg: "Gnadenfrist"
(Originaltitel "Het aapje dat geluk pakt")
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten.
Diogenes.
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Arnon Grünberg wurde 1971 in Amsterdam geboren, arbeitete unter Anderem als Apothekenhelfer, Tellerwäscher und Verleger.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Der jüdische Messias"

Einer zieht aus, das Trösten zu lernen. Und verwandelt sich dabei in Einen, der die Menschheit das Fürchten lehrt und dessen Ähnlichkeit mit "du-weißt-schon-wem" sich nicht leugnen lässt. Eine groteske Farce und ein Angriff auf so ziemlich alle wohlbehüteten Tabus.
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