Günter Grass: "Sämtliche Gedichte"

Herausgegeben von Werner Frizen


Nobel-Verse

Das ist klasse, das ist sensationell! Alle, alle Grass-Gedichte für den Schnäppchen-Preis von rund 10 Euro! Da muss man zugreifen - denn etliche Preziosen finden sich allemal. Die Umschlaggrafik mit skurrilen Kirschen stammt natürlich von Grass höchstpersönlich - und der vorliegende dtv-Band ist textlich identisch mit dem entsprechenden Steidl-Band der sog. 'Göttinger Ausgabe'. Der Vorspanntext verspricht jedenfalls: "Von seinem Debüt 'Die Vorzüge der Windhühner' (1956) bis hin zu dem im Frühjahr 2007 veröffentlichten Band 'Dummer August' sind sämtliche Gedichte des Nobelpreisträgers versammelt." Ach ja, nicht vergessen, wir haben es hier mit einem Literaturnobelpreisträger zu tun - das macht die Sache sowohl einfacher als auch schwieriger. Einfacher, weil man ein gewisses Niveau voraussetzen darf - schwieriger, weil man sich womöglich nicht traut, bestimmte Schwächen bloßzulegen.

In seinem Nachwort verweist Werner Frizen hartnäckig auf das Grass-Zitat: "Am meisten liegt mir Lyrik. (...) Ich komme ja von der Lyrik her." Auch Marcel Reich-Ranicki, der so manchen Grass-Roman mehr oder weniger verriss, hält den Lyriker Grass bei der deutschen Kritik für unterschätzt. Grass gehörte ja nach 1945 zu den Autoren, welche die Sprache sozusagen umwerteten, eine eigene, neue Verschlüsselung riskierten. Thematisch findet sich neben scheinbar Idyllischem mehr und mehr Skurriles, Philosophisches und Politisches - und auch Erotisches. Diese Spannung wird z.B. ausgedrückt im dritten Gedichtband 'Ausgefragt' (1967) mit den beiden Grafiken einer geballten Faust und einer Vulva. Der Skeptiker Grass hatte 1989 gegen die Wiedervereinigung polemisiert - und fühlt sich durch rechtsradikale Anschläge bestätigt.

Viele der Gedichte werden auch zusehends privater, melancholischer - die Beziehung zwischen Sexualität und Kreativität wird deutlicher. In seinem ersten offiziell veröffentlichten Gedichtband räsonierte Grass bekanntermaßen über 'Die Vorzüge der Windhühner', welche "zahllos sind und sich ständig vermehren" - in seinem neuesten Gedichtband 'Dummer August' verarbeitet Grass die Kränkungen, die ihm widerfahren sind, nachdem er seine kurze SS-Zugehörigkeit als Siebzehnjähriger in seiner Tagebuchprosa 'Beim Häuten der Zwiebel' gestanden hatte. Da sagt er, kaum verschlüsselt, über die Kritiker: "Wirbelwind und trocknen Kot / laß sie drehn und stäuben."

Man muss doch meist wissen, welcher Periode Gedichte zuzuordnen sind, dann versteht man die Bilder konkreter, die Grass aufscheinen lässt, dann werden die Metaphern luzider, dann bekommen auch scheinbar lapidare Dinge einen integrativen Stellenwert. Zu den bekannteren Gedichten gehört etwa das 'Kinderlied' mit solchen verstörenden Zeilen wie "Wer lacht hier, hat gelacht? / Hier hat sich's ausgelacht. / Wer hier lacht, macht Verdacht, / daß er aus Gründen lacht." Richtig aberwitzig sind die Verse über den Dichter, den die Kinder lesen, wovon sie den Kaninchen erzählen, welche davon aussterben - mit dem traurigen Fazit: "für wen noch Tinte, wenn es keine Kaninchen mehr gibt!" Grass kann auch gleichzeitig unappetitlich und absurd sein: "die Uhr kotzt in den Eimer, / der Eimer wird nie satt; / Zähneklappern, so heißt / das erste und das letzte Gedicht."

Und dann gibt es ja neben H.M. Enzensbergers Gedicht 'Die Scheiße' noch das Grass-Gedicht 'Kot gereimt' - abgesehen von dem Motiv, über das, was hinten raus kommt, zu dichten, ist die zentrale Forderung durchaus bedenklich bedenkenswert: "Wir wollen jetzt (laut Beschluß) jeder vereinzelt essen / und in Gesellschaft scheißen." Alles nur eine Frage der Gewöhnung, möchte man meinen - wenn sich die individuellen Gerüche zum kollektiven Gestank verdichten - dann ist das immer noch ökologisch vertretbarer als die Scheiße, welche von Politik und Kapital abgesondert wird. Möchte man meinen. Schließlich entdecken wir noch die Abteilung 'Fundsachen für Nichtleser' mit der allumfassenden ernüchternden Erkenntnis: "Alle Bleistifte angespitzt / Wörter auf Abruf / Und doch wird ein Rest / ungesagt bleiben."

Und das wird immer so sein: bei Poeten wie bei Rezensenten. Wer weiß schon, was uns die Poeten bisher alles verschwiegen haben?! Und wer könnte ahnen, worüber Rezensenten bisher nichts schrieben?! Mit begieriger Selbstverständlichkeit sollten wir uns diesen Lyrikwälzer vorknöpfen - Grass ist quasi ein naiver Intellektueller, der alles Banal-Relevante im Leben durchfragt - und wir Leser sollten wohlfeile Zeit und wohlmeinende Geduld bereitgeben.

(KS; 09/2007)


Günter Grass: "Sämtliche Gedichte"
Hrsg. von Werner Frizen

dtv, 2007. 656 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen