Karl S. Guthke: "Sprechende Steine"

Eine Kulturgeschichte der Grabschrift


Dialoge fürs Leben

So seltsam es sich anhört, können Grabinschriften doch eine Menge über das Leben ausdrücken - nicht nur über das vergangene Leben der Verstorbenen, sondern auch der Gesellschaft, in der diese gelebt haben.
Der 1933 geborene Autor Karl S. Guthke beschäftigt sich schon seit längerem mit Themen, die Gräber, letzte Worte und den Tod zum Gegenstand haben. Er lehrte in Nordamerika und ist seit 1968 an der Harvard Universität als Literaturwissenschaftler tätig.
Nun hat sich Guthke mit diesem Buch der Grabschriften angenommen und sehr interessante Details zur Kulturgeschichte der Grabschriften zusammengetragen und analysiert.

In einer gut verständlichen Einführung gibt er einen informativen Überblick zur Grabschriftenkultur, die sogenannte Epitaphologie. Er versteht Grabschriften als ein kulturelles Gedächtnis mit einer großen Aussagekraft zu den Lebensumständen sowie kulturellen bzw. geschichtlichen Zeitgeschehnissen. Außerdem artikulieren sie auch die unterschiedlichen Entwicklungen in der religiösen Betrachtung des Todes.

In sieben Kapiteln befasst sich der Autor dann mit diversen Details und beleuchtet das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven. An manchen Stellen kommt es daher auch zu kurzen Wiederholungen von Zitaten; ansonsten differenziert er gut die Unterthemen. Diese befassen sich mit sogenannten Grabschrift-Anthologien, der Wahrheit bzw. Lüge von Inschriften, den persönlich ausgesuchten oder auch besonders kuriosen Grabschriften. Das Verhältnis der Umwelt zu armen Verstorbenen oder zu denjenigen, die sich suizidiert haben, wird in einem gesonderten Abschnitt behandelt.
Etwas seltsam anmuten wird manchen Leser auch die Befassung mit Grabschriften für Tiere, denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Hier wird an einigen Stellen besonders deutlich, wie sich Grabinschriften in den letzten Jahrzehnten veränderten und auch der Umgang mit dem Tod von Tieren ein anderer wurde.
Das letzte Kapitel macht dann noch einmal einen eher kulturhistorischen Schwenk zu dem Wandel der Grabinschriften und zur Bestattungskultur in den letzten beiden Jahrtausenden, beginnend von der griechischen und römischen Geschichte über das Mittelalter bis hin zur Neuzeit mit den unterschiedlichen Entwicklungen in Amerika, Europa und den anderen Kontinenten.

Ein Epilog befasst sich schließlich mit der neueren Bedeutung von Grabschriften. Dabei verdeutlicht der Autor, dass es im letzten Jahrhundert zu einer Minimalisierung und Eliminierung der Grabschrift gekommen ist und führt dies auf die geringer werdende reale Begegnung mit dem Tod im Alltag der Menschen zurück. Während im Mittelalter und insbesondere in der Neuzeit noch neben den Lebens- und Todesdaten sowie Namen biografische Details auf dem Grabstein platziert wurden, gehe der Trend eindeutig zur anonymen Bestattung; dies belegen Zahlen aus deutschen Großstädten, nach denen über die Hälfte der Toten anonym bestattet werden.

Neben den grabspezifischen Auswirkungen hebt Karl S. Guthke auch die Entwicklungen für die Friedhofskultur und Friedhofsgestaltung hervor.
Im gesamten Buch greifen die Zitate, Grabschriften und Texte gut ineinander. Anzuerkennen ist besonders, dass sowohl die Originalzitate als auch die Übersetzungen abgedruckt wurden. Man hätte sich an der einen oder anderen Stelle ein paar direkte Grababbildungen und Textoriginale gewünscht. So wäre der Text noch zusätzlich unterstützt worden.
Das außergewöhnlich umfangreiche Verzeichnis an Anmerkungen und Namen mag zunächst überfordern, wird aber bei intensiver Beschäftigung als äußerst hilfreich angenommen.

Im Gesamten ist dieses Buch eine vorzügliche, sorgfältig recherchierte Ausarbeitung, welche aufzeigt, dass die Integration des Todes ins Leben keineswegs fehl am Platz ist.
Nicht nur Theologen und Religionslehrer - gleich welcher Konfession - werden von den Darstellungen profitieren können. Ebenso werden psychologisch, soziologisch und kulturwissenschaftlich befasste Menschen eine Menge an Wissen für ihre persönliche Arbeit herausfiltern können.
Es ist zu wünschen, dass "Sprechende Steine" dazu anregt, sich intensiver den Gräbern zu widmen und ihre Bedeutung für eine gemeinsame Erinnerungskultur zu erkennen.

(Detlef Rüsch; 09/2006)


Karl S. Guthke: "Sprechende Steine"
Wallstein Verlag, 2006. 414 Seiten.
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