Mary Gentle: "1610: Kinder des Hermes"


Hermetische Historie oder: Fledderei bei Dr. Fludd

Bei "1610: Kinder des Hermes" handelt es sich um eines jener verführerischen Bücher, die durch interessanten Titel und ansprechende Umschlaggestaltung zum Kauf nötigen. Der Kaufentscheid wird zwar nicht bereut, allerdings büßt die anfängliche Koketterie aufgrund einer mäßigen Handlung schnell an Anziehungskraft ein. Was einerseits daran liegt, dass die Hauptcharaktere in ihren innersten Beweggründen aufgesetzt agieren, andererseits, dass kaum klar wird, welches Ziel der Erzschurke nun konkret verfolgt.

Beginnen wir gleich mit selbigem, dem negativen Pol des Romans, der sich in Person von Dr. Robert Fludd (1574-1637) entlädt. Historisch betrachtet war Fludd ein eigenwilliger Mathematiker, der sich ebenso mit Farbenlehre und Philosophie auseinandersetzte. Wie viele herausragende Geister früherer Zeiten wurde er von Ignoranten und Frömmlern bzw. von ignoranten Frömmlern (et vice versa) der "dunklen Künste" beschuldigt. Bei Mary Gentle ist Fludd "Der letzte Alchimist", wie auch ihr erster Band der "1610"-Reihe heißt. Und er hat eine komplizierte mathematische Formel entdeckt, mittels derer er die Zukunft vorausberechnen kann - unter Miteinbeziehung (fast) aller Wahrscheinlichkeiten. Dieses Können brachte ihm eine andere mysteriöse Figur jener Epoche bei: Giordano Bruno (1548-1600), der am Scheiterhaufen der Inquisition den Flammentod fand. Fludd und Bruno, ein kongeniales Team, möchte man meinen. Im Roman ist von dieser potenziellen britisch-italienischen Synapsensynergie wenig zu spüren. Stattdessen grundelt Dr. Fludd als einer der letzten überlebenden "Giordanista" im englischen Untergrund dahin und schmiedet Komplotte, um die Zukunft zu verändern, da ihm das, was er für diese berechnete, missfiel. Was er genau vorhergesehen hat, geht aus Mary Gentles Roman leider nicht hervor. Fludd bedient sich des ohnehin rebellischen Earls von Northumberland, Henry Percy, um den Regenten James I. (reg. 1603-1625) zu stürzen und stattdessen James’ Sohn als König Henry IX. zu inthronisieren. Wie gesagt: das dahinterliegende cui bono seiner Anstrengungen bleibt verborgen.

Nun zu Fludds hartnäckigstem Gegenspieler, zu Valentin Rochefort. Wie alle positiv gelagerten Antihelden scheint er aufs Erste als übler Opportunist mit stets talwärts führender Laufbahn: Soldat, Straßenräuber, Häftling, Spion, Auftragsmörder. Selbstverständlich gebührt Rochefort das Adelspartikel "de", er ist verstoßener Spross des Marschalls von Frankreich höchstselbst. Aus Dankbarkeit gegenüber seinem Mentor, dem Duc de Sully, der ihn aus dem Gefängnis holte und in herzögliche Dienste gestellt hat, kämpft Rochefort gegen die Thronräuberin Maria di Medici, die de Sully aus dem Weg räumen will. Weil die Medici-Usurpatorin unter allen Umständen ein Friedensbündnis mit England anstrebt, geht Rochefort auf die Insel, um König James dazu zu bringen, ein solches Bündnis nur dann einzugehen, wenn höfische Stellung samt Leben des Duc de Sully vertraglich garantiert würden. Hier liegt ein großer Schwachpunkt des Romans: Warum sollte der englische Herrscher darauf eingehen, warum hat Maria di Medici ihren internen Widersacher nicht schon längst beseitigt, warum zeigt ein Überlebenskünstler wie Rochefort soviel Nibelungentreue zu seinem politisch schwachen Herren???

Da Robert Fludd König James tot sehen will, geraten er und Valentin Rochefort sich natürlich ständig in die Quere. Aufgepeppt wird dieses Duell durch Saburo Tanaka, einen Samurai, der im Auftrag des japanischen Shoguns in England weilt, und durch Mademoiselle Dariole, eine kaum sechzehnjährige französische Abenteurerin, die mit scharfem Rapier und schlichter Herrenkleidung ebenfalls gegen Dr. Fludd zu Felde zieht. Selbstverständlich ist Dariole, deren wahrer Name Arcadie de Montargis lautet, ebenfalls nobler Herkunft. Einmal verbündet sie sich mit Rochefort, einmal verfolgt sie eigene Racheziele. Beim Lesen wird man unwillkürlich an Keira Knightley und Johnny Depp in "Der Fluch der Karibik" erinnert.

Eines kommt in genanntem Disney-Film natürlich nicht vor: Sooft die junge Dame mit Rochefort die Klingen kreuzt, ergeht sich dieser weniger in Sorgen um den schnittigen Stahl, als um die Wallungen in seinem Schritt. Unverblümt bringt Mary Gentle jene Erektions-Momente zu Papier. Zum Schluss hin macht sich das Blut aber weniger durch Staus in den Genitalien bemerkbar, sondern durch Erhöhung der Herzschmerzfrequenz. Die unterschwellige Sado-Maso-Beziehung von Dariole und Valentin wird um eine Verbalromanze erweitert.

Gegen Ende des Romans kann Dr. Fludd kurzfristig gestellt und inhaftiert werden. Allerdings möchte ihm niemand - außer Dariole, die er vergewaltigen ließ - ans Leben. Denn alle Großmächte, ob England, Frankreich, Spanien, etc. wollen sich seiner visionären Rechenkünste bedienen. So geschieht es, dass er mithilfe der Jesuiten gen Lissabon entfliehen kann und von da weiter ins Reich der aufgehenden Sonne Segel setzt. Ob "1610: Söhne der Zeit"dort fortsetzen wird? Anzunehmen; auch ohne Probabilitätskalkulator.

Im englischen Original erschien der Roman nicht auf drei Bücher gestückelt, sondern in einem. Sein ursprünglicher Titel "ASundial in a Grave" ("Eine Sonnenuhr im Grab") macht wenigstens vage Andeutungen auf Dr. Fludds Geheimnisse, während "Kinder des Hermes" die deutschsprachige Leserschaft vor ein schwer zu lösendes Rätsel stellt. Was hat der gleichnamige griechische Götterbote mit Fludd zu schaffen. Liegt es daran, dass Hermes auch Beschützer der Magier, Patron der hermetischen Wissenschaften war? Oder ist am Ende Hermes Trismegistos, mythischer Ahnherr vieler antiker Geheimlehren, Namensgeber? Mary Gentle bleibt die Erklärung schuldig.

Zum besseren historischen Verständnis eignet sich "1610: Kinder des Hermes" durchaus. Die machtpolitischen Konflikte zwischen Protestanten (Anglikaner, französische Hugenotten) und Katholiken (Medici, Jesuiten, Spanier) geben einen Vorgeschmack auf Kolonialkriege bzw. den herannahenden Dreißigjährigen Krieg (1618). Gut beschrieben ist auch König James I., ein verschrobener, übergewichtiger, speichelnder und spuckender Monarch, der an seine Gottgesandtheit glaubt. Während einer Fluchtszene in die tiefste englische Provinz ist er aus Gründen der Tarnung gezwungen, vor dem gaffenden Dorfpöbel sich selbst auf der Bühne darzustellen. In dieser Sequenz hat Mary Gentle Gespür für Komik und Feinheiten bewiesen. Sonst aber schimmert stilistisch oft ihre krude Saga "Die letzte Schlacht der Orks" hindurch. Mehr elfische Blasiertheit wäre besser gewesen.

(lostlobo; 08/2006)


Mary Gentle: "1610: Kinder des Hermes"
Ins Deutsche übertragen von Rainer Schuhmacher.
Bastei Lübbe, 2006. 397 Seiten.
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