Johannes Gelich: "Chlor"


"Aus dunstigem Tal die Welle
Sie rann und sucht' ihr Glück.
Sie kam ins Meer zur Stelle,
Und rinnt nicht mehr zurück."


(Aus "Undine" von Friedrich de la Motte Fouqué)

Das u.a. als Desinfektionsmittel verwendete reaktionsfreudige Element Chlor ist bekanntlich für den typischen Schwimmbadgeruch verantwortlich. Gleichsam am anderen Ende einer gedachten Reaktionsfreudigkeitsskala steht Hans, Johannes Gelichs verschrobener Icherzähler mit Vorliebe für die Meeresfauna, Scheidungskind, studierter Philosoph, darob Heidegger-Experte, verheiratet, passionierter Stadthallenbadbesucher und - zu Beginn der Geschichte - als Kommunikationsberater in Wien beschäftigt.

"Chlor" in Buchform verursacht keine geröteten Augen

Die schicksalhafte Hinwendung zum Wasser wie auch der Name Hans verweisen auf frühere Bearbeitungen des Undine-Stoffs durch andere Autoren, jedoch greift Johannes Gelichs "Chlor" wesentlich weiter und kann nicht ausschließlich als wechselvolle Beziehungsgeschichte, sondern ebenso als treffsichere Zeit- und Gesellschaftskritik gelesen werden, denn zweifellos schrieb sich da jemand mancherlei Unmut von der Seele.

Eines Tages steht Hans plötzlich ohne Einkommen da, entlassen aufgrund von "umstrukturierenden Reengineeringmaßnahmen", und zwar von seiner Abteilungsleiterin mit dem bezeichnenden Namen Kain, auch "Die mit dem Wort tanzt" sowie "Letter-Woman" genannt. "Ihre Arbeit ist interessant, eröffnet Zukunftsperspektiven und lässt Ihrer Kreativität genügend Spielraum, deswegen sind Sie motiviert und arbeiten bei AUSTROCOM, nicht um Ihre Brötchen zu verdienen, haben Sie verstanden?", erläuterte die Abteilungsleiterin ihm einmal die auf dem modernen Sklavenmarkt geltenden Regeln. Nicht von ungefähr zitiert Johannes Gelich u.a. aus Corinne Maiers Buch "Die Entdeckung der Faulheit".
Hans hält die Kündigung vor seiner Frau Vivien, einer studienbedingten Expertin für das Undine-Thema, die sich quasi Tag und Nacht als "PR-Managerin" verausgabt und oft auf Geschäftsreisen ist, krampfhaft (und für den Leser unterhaltsam) geheim und begibt sich von nun an tagsüber zumeist ins Stadthallenbad, wo sich die beiden einst kennenlernten, um zu beobachten, nachzudenken, zu dösen und natürlich auch, um zu schwimmen. Einmal muss er anderswohin ausweichen und landet zuerst im Foltermuseum und anschließend im in einem Flakturm untergebrachten "Haus des Meeres".

Erstaunlicherweise bleibt der unfreiwillig der Last des brotberuflichen Funktionierenmüssens Entledigte monatelang vom Tun oder auch Lassen des AMS ("Arbeitsmarktservice Österreich") gänzlich unbehelligt.
Insofern zeichnet Johannes Gelich nicht unbedingt ein realistisches Bild der Gegebenheiten, denn der durchschnittliche "Arbeitsuchende" (der nicht schönfärbende Begriff "Arbeitsloser" wurde im offiziellen Sprachgebrauch schon beinahe ausgerottet) wird zur Teilnahme an auffallend fruchtlosen Kursen wie z.B. "Bewerbungscoaching" verpflichtet.

Es scheint, als würden nicht wenige Arbeitgeber die Genesis bewusst bösartig auslegen, denn dort heißt es zwar "Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.", dass man sich mit derlei vermeintlichen Willkürvollmachten ausgestattet etwa zum kapitalistischen Halbgott über "auf Erden kriechende" Dienstnehmer aufschwingen dürfe, ist daraus freilich nicht guten Gewissens abzuleiten. Um störende Gewissensreste auszumerzen, wurden neue Formen des Handelns und Sprechens erschaffen, geprägt von heuchlerischer Schönfärberei und bizarrer Worthülsenakrobatik.

Leidenschaftsloses Ausleben von Leidenschaften

Aus diesem unlauteren Umfeld verbannt, findet Hans ungesäumt zu einer seinen Anlagen entsprechenden Lebensweise; er pendelt vornehmlich zwischen Badewanne und Hallenbad. Neben einer Vorliebe für Wein- und Zigarettengenuss umfasst die neue Lebensart auch das Wiederaufkeimen seines leidenschaftlichen Interesses am Meer und an dessen Bewohnern, weshalb sich allerlei Populärwissenschaftliches über Wale, Delfine, Haie, Quastenflosser und Plankton in "Chlor" findet. Übrigens erfahren auch klassische Sujets wie der Narziss und das Höhlengleichnis witzige Abwandlungen bzw. Anwendungen.

Der im Präsens abgefasste Roman entwickelt sich vorwiegend als innerer Monolog des Icherzählers: Hans lässt seine Gedanken zu misslichen Kindheitserlebnissen und der ersten Zeit mit Vivien schweifen, beobachtet und lauscht grundsätzlich aufmerksam und denkt nicht einmal in seinen detailreich geschilderten Träumen daran, sich wieder einen Arbeitsplatz zu suchen.
Auch dass der nach einem Schlaganfall verwirrte Schwiegervater ständig anruft, um sich nach seiner nicht existierenden Enkelin Emilie zu erkundigen, gehört zum Alltag, den Hans bis hin zu intimen Details minuziös schildert.
Man hat es mit einem von Natur aus eher duldsamen, pessimistischen Icherzähler zu tun, der sich allerdings im Verlauf des Romans gelegentlich durchaus einen Jux machen will, wüste Streiche ausheckt und schließlich sogar beschaffungskriminelle Energie entwickelt.

"Du sollst wissen, mein süßer Liebling, dass es in den Elementen Wesen gibt, die fast aussehen wie ihr und sich doch nur selten vor euch blicken lassen. In den Flammen glitzern und spielen die wunderlichen Salamander, in der Erden tief hausen die dürren, tückischen Gnomen, durch die Wälder streifen die Waldleute, die der Luft angehören, und in den Seen und Strömen und Bächen lebt der Wassergeister ausgebreitetes Geschlecht. In klingenden Kristallgewölben, durch die der Himmel mit Sonn und Sternen hereinsieht, wohnt sich's schön; hohe Korallenbäume mit blau und roten Früchten leuchten in den Gärten; über reinlichen Meeressand wandelt man und über schöne, bunte Muscheln, und was die alte Welt des also Schönen besaß, dass die heutige nicht mehr sich dran zu freuen würdig ist, das überzogen die Fluten mit ihren heimlichen Silberschleiern, und unten prangen nun die edlen Denkmale, hoch und ernst, und anmutig betaut vom liebenden Gewässer, das aus ihnen schöne Moosblumen und kränzende Schilfbüschel hervorlockt. Die aber dorten wohnen, sind gar hold und lieblich anzuschauen, meist schöner als die Menschen sind. Manch einem Fischer ward es schon so gut, ein zartes Wasserweib zu belauschen, wie sie über die Fluten hervorstieg und sang. Der erzählte dann von ihrer Schöne weiter, und solche wundersame Frauen werden von den Menschen Undinen genannt. Du aber siehst jetzt wirklich eine Undine, lieber Freund."

(Aus "Undine" von Friedrich de la Motte Fouqué)

Die Beziehung von Hans und Vivien schlittert von einer Krise in die nächste. Dazu gehören ein sich in der Wohnung ausbreitendes Rauchverbot, Kreidestriche auf dem Boden, die "Vivienbereiche" und "Bereiche für Hans" kennzeichnen, barsche Restkommunikationsversuche in Form von schriftlichen Kurzmitteilungen (in besseren Zeiten waren es Haikus) sowie seltene oberflächliche Begegnungen in der gemeinsamen Wohnung. Das eheliche Zusammenleben, eine "körperlos gewordene Beziehung", ist längst in bedeutungslosen Alltagsritualen erstarrt, und eine Beziehungspause wird anberaumt.

Im Hallenbad (wo sonst!) lernt Hans die behütete japanische Studentin Yukiko kennen, auch sie gewissermaßen eine Undine, die ihm ein Buch über das Wesen des Wassers schenkt. Die beiden lassen sich eines Abends im Hallenbad einschließen und verbringen eine Liebesnacht im Trainingsraum, nach der Yukiko aus Hans' Leben verschwindet.

Seine Mittellosigkeit treibt Hans dazu, Geld aus Spinden ("Garderobensteuer") zu entwenden. Auch steckt er Zettel mit aufgeschnappten kuriosen Botschaften in die Spinde "übermütiger Badegäste".

Wie und weshalb es dazu kommt, dass sich der Kreis nach einer überraschenden Wendung und unter Beigabe einer Prise Romantik schließt, Hans und seine Undine also wieder glücklich vereint sind, sei an dieser Stelle nicht verraten.

Geist ist geil!
"Die Inszenierung von Arbeit und das Vortäuschen von Geschäftigkeit (sind) das höchste Ziel der Arbeit."
Es genügt folglich meistens, Kompetenz und Engagement zu simulieren und sich im Fall der Fälle hinter "unabhängigen Experten" zu verschanzen; eine Entwicklung, die den jeweils hemmungslosesten Dampfplauderern und Selbstdarstellern Tür und Tor öffnet.
Wechselwirkungen von Angebot und Nachfrage sorgen nun einmal nicht zwangsweise für Qualitätsbewusstsein, sondern ziehen in erster Linie Niveauverlust nach sich. Der mündige Bürger ist wohl eher ein Albtraum für Politiker, ebenso der mündige Konsument für Wirtschaftstreibende, weshalb die gnadenlose Gleichschaltung auf Basis trivialer Gemeinplätze betrieben, der Einzelne zur Zivilträgheit erzogen wird.
Joachim Unseld von der Frankfurter Verlagsanstalt bemerkte in "Die Zeit" Nr. 12 vom 16.03.2006: "Bücher sind eine stille Ware: Sorgen habe ich deshalb, wie künftig anspruchsvollere Literatur im immer derber werdenden medialen Kampf um das knappe Gut 'Aufmerksamkeit' dastehen wird. Wie also findet Literatur ihren Leser, wenn selbst die öffentlich-rechtlichen Medien jetzt damit beginnen, ihr Publikum vom Anspruch 'ganz unten' abzuholen, und damit nichts anderes betreiben als die Kultivierung der Bildungslosigkeit."
Der Dichter Paul Celan gab einst den Rat: "Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst."

(kre; 03/2006)


Johannes Gelich: "Chlor"
Literaturverlag Droschl, 2006. 213 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Nirwana"

Er ist ein Faultier und ein Träumer, er ist mürrisch, liebenswert, wohlhabend und großzügig: Nepomuk Lakoter. Als er eines Tages stürzt und sich das Bein bricht, ist der verschrobene Müßiggänger keineswegs unglücklich darüber. Mit Liegegips an sein geliebtes Kanapee gefesselt, engagiert er eine rumänische Haushälterin - doch mit Amalias Einzug ist unvermutet Schluss mit dem beschaulichen Leben.
Auf einer vergnüglichen literarischen Schnitzeljagd macht Johannes Gelich in diesem Roman mit einem Aussteiger bekannt, der in Sachen Antriebslosigkeit dem großen Oblomow um nichts nachsteht. Ein ebenso satirisches wie sinnliches Sittenbild unserer Zeit und zugleich eine Hommage an die verlorene Generation der heutigen Übervierzigjährigen. (Haymon)
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Weitere Buchtipps:

Irene Krieger: "Undine, die Wasserfee. Friedrich de la Motte Fouqués Märchen aus der Feder der Komponisten"

Bei diesem Buch handelt es sich um eine populärwissenschaftliche Arbeit, die sich nicht nur an Musikwissenschaftler wendet, sondern allgemein verständlich formuliert an alle Menschen, die an Märchen-, Zauberopern und -balletten interessiert sind. Forscher über Friedrich de la Motte Fouqué und solche über E.T.A. Hoffmann finden ebenso Informationen wie diejenigen, die die Wirkungen und Weiterentwicklungen dieses Undinen-Themas verfolgen. In der Arbeit sind zwölf Opern und vier Ballette ausführlich beschrieben. Dabei werden die Geschichte und Geschichten um die Entstehung der Opern ebenso behandelt wie ihre Rezeption in der Zeit. Die Autorin listet die Uraufführungsrezensionen aus namhaften Musikzeitschriften auf, erläutert den Opernstoff in seinem Bezug zum Fouquéschen Märchen und charakterisiert die Musik. Zusätzlich listet sie alle Vertonungen auf, die um den Undinenstoff ranken, wie Melusine, Najade, Nixe, Loreley, Nymphe und Sylphide. Sofern vorhanden, sind Berichte über die Uraufführungen beigefügt. (Centaurus Verlag)
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Frank Schätzing: "Nachrichten aus einem unbekannten Universum. Eine Zeitreise durch die Meere"
Über viereinhalb Milliarden Jahre geheimer Geschichten, wuchtiger Dramen, verblüffender Wendungen und seltsamer Erfindungen wie Fotosynthese, Sex oder Menschen. In seinem neuen Buch erzählt Frank Schätzing grandios vom Universum unter Wasser - und wie es unsere Zukunft bestimmt. "Ist der Hai grausam, weil er den Menschen frisst? Ist der Mensch grausam, weil er die Auster isst? Wird dem Hai das Leiden des Opfers bewusst, wenn dieses schreit? Oder nimmt er das Schreien als erfreuliches Indiz für die Frische der verzehrten Ware, so wie wir wohlwollend das Zucken der Auster betrachten, wenn wir ihr Fleisch mit Zitronensaft beträufeln?" Nebenbei, dies ist kein Plädoyer gegen den Verzehr von Austern. Mensch und Meer. Eine merkwürdige Beziehung, geprägt von Liebe, Hass, Unkenntnis, Romantisierung, Neugier und Ignoranz. Wie funktioniert dieses gewaltige System, dem wir entstammen und über das wir weniger wissen als über den Weltraum? Wie konnte im Urozean Leben entstehen, woher kam überhaupt das ganze Wasser? Warum ist die Evolution ausgerechnet diesen Weg gegangen und keinen alternativen? Denn ebenso gut hätte sie uns in intelligente, flüssigkeitsgefüllte Luftmatratzen verwandeln können. Einmal hat sie es jedenfalls versucht - und beinahe geschafft. Überraschung! Frank Schätzing hat ein Sachbuch geschrieben. Eines, das so spannend ist wie "Der Schwarm". (Fischer)
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Katharina Hacker: "Der Bademeister"
Ein Schwimmbad mitten im Prenzlauer Berg ist geschlossen worden. Es verrottet langsam, aber durch seine Gänge streift noch jemand ruhelos, der dort sein ganzes Berufsleben verbracht hat: ein ehemaliger Bademeister. Arbeitslos geworden, mag er nicht begreifen, dass mit der Schließung alles zu Ende und dem Verfall preisgegeben sein soll. Bald verlässt er das Bad nicht einmal mehr, um zu Hause zu übernachten. Assoziationsreich spricht er mit sich selbst oder imaginierten Zuhörern. In Bruchstücken, die sich erst nach und nach zu einem Bild fügen, erfährt man so die Lebensgeschichte des Bademeisters. Dass ihm etwa ein Studium verwehrt blieb, hat auf eine dunkle Weise mit Verfehlungen des Vaters zu tun. Weitere Geschichten gewinnen Kontur: Der Vorgänger des Bademeisters war während des Dienstes von zwei Männern abgeholt worden und nie wieder aufgetaucht, das Bad in den Jahren des Nationalsozialismus zu Zwecken benutzt worden, über die niemand zu sprechen wagte. Immer neu nimmt der Erzähler Anlauf, um sich seiner selbst zu vergewissern. (Fischer)
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