Karl-Markus Gauß: "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte"

Albumblätter


Pflichtlektüre für frierende Intellektuelle

Was hat der Ötzi mit jenem Psychologen gemeinsam, der sich 1967 freiwillig ins Gefrierfach legte für künftige Generationen? Was verbindet die beiden mit jener Frau, die sich seit Jahren im Internet beobachten lässt? Was bedeutet es, dass sich der us-amerikanische Präsident Thomas Jefferson nur mehr in der Erblinie seiner afroamerikanischen Nachkommen wiederfinden lässt?

In seinem Prosaband "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte", bringt der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß diese und zahlreiche andere Phänomene auf den Nenner der Unsterblichkeit und trifft damit im Zeitalter des Schönheitszwangs, des Jugendwahns und der Geilheit nach Öffentlichkeit mit einer Zielschärfe den Zeitgeist, wie das in den 1980er-Jahren nur die "Suhrkamp-Kultur" schaffte. Es ist eine Welt, die immer weniger Humanität kennt, was Gauß vor allem am Sprachlichen ablesen kann: Dem Verlust der Sprache und der Schöpfung von Unworten wie "Mindestleben".

Präzise und mit hintergründigem Humor wird Gauß somit zum Verteidiger des "Alten Europa", jener Welt in der ein Suhrkamp-Autor wie Thomas Bernhard noch einen Tag lang ganz Westösterreich abfuhr, um ein Restexemplar der "Neuen Zürcher Zeitung" zu ergattern, des Feuilletons wegen. Nicht zufällig wurde Karl-Markus Gauß vor allem seiner feinsinnigen Betrachtungen zum Tagesgeschehen im gehobenen Feuilleton wegen, nicht nur in der "NZZ", sondern auch der "FAZ" und der österreichischen "Presse" bekannt. Dass gegenständlich besprochenes Buch bei dtv erschienen ist, kann man deshalb sowohl als Dokument des Niedergangs der "Suhrkamp-Kultur" wie ihrer glänzenden Wiedergeburt sehen.

Es ist ein witziges und spritziges Buch geworden, das so manche von der Unbedachtheit der Zeitläufte frierende Intellektuelle davon abhalten wird, sich ganz ins Gefrierfach zu wünschen. Das Elton-John- Lied "Candle in the Wind" zu Lady Dianas Ableben etwa hat da therapeutische Wirkung in Gauß' bernhardesk anmutender Suada: "Wie jeder hören kann, der sich die Fähigkeit zu hören in dem unablässigen Gedudel, das unser Leben durchweht, wenigstens rudimentär erhalten hat, ist dieses Lied natürlich der reinste musikalische Analphabetismus, ein flagranter Fall von akustischer Idiotie. Musikalisch will das selbstzufrieden sich austrällernde Lied nichts anderes sagen als: Hört her, ich bin die Dummheit, und es ist angenehm, die Dummheit zu sein!"

Es ist die besondere Begabung von Karl-Markus Gauß, derartige Behauptungen unterhaltsam und auf höchstem sprachlichen Niveau in eine überzeugende gesellschaftspolitische Kritik einbauen zu können: Unserer Unfähigkeit, mit dem Tod umzugehen.

(Berndt Rieger; 11/2004)


Karl-Markus Gauß: "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte"
dtv, 2004. 128 Seiten.
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1 Audio-CD:
Hörsturz, 2003.
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