Erich Fromm: "Jenseits der Illusionen"

Die Bedeutung von Marx und Freud


Zweifel - Wahrheit - Veränderung

Die amerikanische Originalausgabe (1962) trug den stärkeren Titel "Beyond the chains of illusion" - weswegen die deutschen Übersetzer Liselotte und Ernst Mickel den Titel entschärft haben, mag ihr Geheimnis bleiben. Jedenfalls ist Fromm (1900-1980) ein vom Stil her sehr angenehm zu lesender Autor, von dem hier eine Art "intellektuelle Autobiografie" vorliegt, in der uns "Die Bedeutung von Marx und Freud" aus seiner Sicht erläutert. Die Verwirklichung des Humanismus durch Befreiung von Illusionen ist ein gemeinsamer Basisnenner von Marx, Freud und Fromm, welcher als Sozialphilosoph und Psychoanalytiker in persona den individuellen und den gesellschaftlichen Ansatz zusammenzuführen versucht - wie wir das ja auch aus seinen beiden wichtigsten Büchern "Haben oder Sein" (1976) und "Die Kunst des Liebens" (1956, 1980) kennen.

Zunächst erklärt uns Fromm anhand "persönlicher Vorbemerkungen", wie er schon von früher Jugend an den Zugang zu Marx und Freud gefunden hat. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte er den "leidenschaftlichen Wunsch nach Frieden und internationaler Verständigung" und stellt fest: "Darüber hinaus hegte ich ein tiefes Misstrauen gegen alle offiziellen Ideologien und Erklärungen und war überzeugt, dass man an allem zweifeln müsse" - also auch an inoffiziellen Ideologien und Erklärungen, sei ergänzt! Als seine Methode beschreibt Fromm von Anfang an die Verbindung von Empirie und Spekulation. Fromm trat der Amerikanischen Sozialistischen Partei bei und arbeitete in der Friedensbewegung mit. Für ihn brachte Marx "das geistige Erbe des Aufklärungshumanismus und des Deutschen Idealismus mit der Realität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Tatsachen" zusammen.

Als die drei wesentlichsten Gemeinsamkeiten von Marx und Freud sieht Fromm: 1) die kritische Grundhaltung, den Zweifel, die Skepsis 2) die Befreiung von Illusionen, die Macht der Wahrheit 3) Humanismus - zusammengefasst in ihrer "dynamischen und dialektischen Sicht der Wirklichkeit" und damit die Überzeugung, dass sich Menschen und Verhältnisse verändern können bzw. lassen. Wenn auch Freud nur ein "liberaler Reformer", Marx dagegen ein "radikaler Revolutionär" war, erfüllte beide ein "unbedingter Wille, den Menschen zu befreien" - von gesellschaftlichen Konventionen und der Versklavung durch die Wirtschaft.

Spinoza als "Vater der modernen dynamischen Psychologie" erkannte bereits die allen Menschen eigene gemeinsame menschliche Natur, aus der sich der Humanismus ganz selbstverständlich definiert. Der Mensch wird als Bestandteil der Evolution gesehen und in seinem Verhältnis zur Natur, wobei er sich durch Arbeit (Marx) bzw. Kultur (Freud) manifestiert. Speziell für Marx ist das Ziel der Entwicklung des Menschen die Freiheit, wenn die Entfaltung seiner Kräfte nicht mehr der Produktion unterworfen sein wird. Freud befürchtet allerdings in der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen zunehmende Frustration.

Die fundamentale "Krankheit" des Menschen ist seine Entfremdung, seine "Versklavung durch die Dinge und Umstände", von welcher ihn der Sozialismus befreien soll, indem er den Menschen zum bewussten Subjekt seiner Kräfte und seiner Geschichte erhebt. Ausdruck bzw. Folge der Entfremdung sind etwa auch Depression, Abhängigkeit, Fanatismus und die Unfähigkeit, seine eigene Identität zu erleben. Andererseits wird die Entfremdung von Marx als notwendiges historisches Stadium gesehen, wodurch der Mensch erst bewusst "die Möglichkeit, sich aufs Neue mit seinen Mitmenschen und der Natur zu vereinigen, ohne seine Integrität und Identität zu opfern" bekommt. Des Weiteren untersucht Fromm noch die Begriffe des individuellen und gesellschaftlichen Charakters in ihrer Wechselwirkung mit der ökonomischen Basis und Ideen; das individuelle und gesellschaftliche Unbewusste (die Realität hinter unserem bewussten Denken - der Bereich der Verdrängung). Der Mensch muss sich (durch Analyse) der ihn bestimmenden und motivierenden Kräfte (der Realität) bewusst werden, um sein Leben frei zu gestalten.

Fromm verweist auch darauf, wie sehr wir von der Sprache und der Logik des Kulturkreises, in dem wir leben, bestimmt werden. Wichtig scheint such sein Vergleich von Rationalisierung und Ideologisierung als Methode der Rechtfertigung. Und wir erfahren die ernüchternde historische Beobachtung, dass "Ideen zu Ideologien entarten." Ebenso warnt Fromm vor dem "Fetischismus der Worte", wenn man philosophische Ideen nur so lernen wollte wie eine Fremdsprache. In seinem abschließenden "Credo" attestiert Fromm dem Menschen Vernunft und die Freiheit, sich zu entscheiden zwischen Veränderung und Wiederholung im Leben. Er glaubt an keinen Gott, welcher die Menschen rettet oder verdammt - aber er glaubt an die "Vervollkommnungsfähigkeit" des Menschen. Schließlich ist für ihn die "Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters." In diesem Sinne ist dies ein sehr empfehlenswertes Buch, das uns auch Mut macht, unser kritisches Bewusstsein zu entwickeln.

(KS; 07/2006)


Erich Fromm: "Jenseits der Illusionen. Die Bedeutung von Marx und Freud"
dtv, 2006. 207 Seiten.
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