Max Frisch: "Stiller"
"Sieh, darum ist es 
so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit 
der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas 
anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt 
ausgeschlossen wird." (Sören Kierkegaard)
Der Mensch kann sich 
nur rückwärts denken. Wenn also Stiller gleich zu anfangs den berühmten Satz 
aufschreibt:  "Ich bin nicht Stiller", lässt sich die ganze Kraft der 
Identitätssuche proklamieren, von der sämtliche großen Romane des genialen 
Schweizer Autors 
Max Frisch gekennzeichnet sind.
Es beginnt damit, dass 
  es keine Gegenwart im Denken gibt. Denn alles Denken richtet sich auf etwas, 
  das sich ereignet hat oder vielleicht ereignen wird. Im Jetzt kann es kein Denken 
  geben, da schon in dem Moment, wo ein Gedanke formuliert ist, dieser in sich 
  selbst aufgelöst wurde. Die philosophische Dramatik spannt einen herrlichen 
  Bogen zu dem streitbaren Theologen 
Sören Kierkegaard. Max Frisch hat 
  die teils schwerwiegenden Kontexte kierkegaardscher Ausprägung in wunderbare 
  Geschichten gehüllt. Er brachte die Frage der Identität dazu, über Hunderte 
  Seiten gestellt zu werden und unbeantwortet zu bleiben. Insgeheim kann es auch 
  nicht das Ziel sein, Identität aufzudecken. Schlichtweg die Unmöglichkeit dieses 
  Unterfangens sollte zugegeben werden.
  Wenn Stiller meint:  
"Ich bin nicht Stiller", so denkt er sich automatisch rückwärtig. Er hat mit 
diesem Menschen, der mal Stiller war, vor zwei Jahren oder mehr, nichts mehr zu 
tun. Dieser Stiller war ein Anderer, ein Fremder. Doch die Menschen um ihn herum 
bleiben dabei, dass dies genau jener Stiller sei, wie vor ewigen Zeiten.  "Du 
hast dich ja gar nicht verändert!" Dieser Stehsatz von Konversation wird oft 
dann ausgesprochen, wenn sich ehemalige gute Freunde nach zehn oder fünfzig 
Jahren wieder begegnen. Das Merkwürdige ist: Die beiden Freunde müssten wissen, 
dass diese "Feststellung" nur Unsinn sein kann. Denn innerer Stillstand würde 
den Menschen wohl töten. Es geht nicht darum, unbedingt eine positive Wende zu 
erkennen, sondern um grundsätzliche Erweiterung des Sichtfeldes. Der Mensch ist 
keine spanische Wand, hinter der er sich vor sich selbst verbirgt. Hinter der 
spanischen Wand könnte er sich selbst zu einer Null dimensionieren und ausrufen:
 
"Ich bin stets Derselbe." Aber eine Wesensänderung ist nie auszuschließen. Die 
Frage des selbstreflexiven Menschen muss daher sein:  "Inwieweit kann ich mich 
selbst akzeptieren?" Da der Mensch ja nie fertig ist mit der Erkenntnis von sich 
selbst; Selbsterkenntnis eigentlich gar nicht möglich ist, da sie einen 
zeitlichen Stillstand oder aber die Auflösung der Zeit voraussetzen würde, 
bleibt es ihm wie Rosegger nur auszurufen:  "Auch der Andere, der bist du." Ja, 
Stiller ist er selbst, weil er selbst in sich beruht. Doch er ist stets auch 
der, der er sein könnte oder wollte oder aber kurzzeitig ist. So wie etwa Rip 
van Winkle einschläft und nach vielen Jahren aufwacht. Er geht in seiner 
Heimatstadt umher, die sich extrem verändert hat, und kann das nicht glauben. 
Erst nach einiger Zeit nimmt er auf sich selbst Bezug und bemerkt, dass er von 
dieser Veränderung nicht verschont geblieben ist. Er hat Jahre von Leben 
verschlafen! Diese Erkenntnis ist freilich ein Hammer, und wenn ein Mann seine 
Familie verlässt, um dann nach ebenso vielen Jahren plötzlich aufzutauchen und 
in die Geburtstagstorte zu schießen, woraufhin er wieder in die Verschollenheit 
zurückgleitet, so sind die unfertigen Identitätsbestandteile menschlicher 
Selbstreflexion auf den Kopf gestellt.
Der Mensch ist nie, was 
er einmal war, außer er macht sich zu einem Abziehbild seiner selbst. Das Klonen 
ist ja nicht mehr als der Versuch, dieses Abziehbild zu manifestieren und damit 
die selbstregulatorischen Fähigkeiten des Menschen außer Betracht zu ziehen. 
Wenn der Mensch sich selbst entzogen ist, kann ein weiterer Mensch auftauchen, 
der wiederum sich selbst entzogen wird, bis diese interstellare 
Reproduktionsmaschinerie in einem Netz aus Missgeburten endet. Rip van Winkle 
ist eine der Figuren von Max Frisch, die nur aus sich selbst heraus leben 
können. Wie beginnen Märchen nun mal 
meist:  "Es war einmal." Und dann erwartet den Leser eine Geschichte, die durch 
verschiedentliche Auflösungen menschlicher Identitäts- und Sinnbestimmungen auf 
eine Konklusio zusteuert, welche an eine Grundwahrheit gemahnt, auf die nie 
vergessen werden sollte.  "Ich bin nicht Stiller" ist die rückwärtsgedrehte 
Bewegung; sozusagen die vorweggenommene Konklusio. Es ist klar, dass die Figur, 
die hier erzählt, Stiller ist. Aber eben nicht der Stiller, der von seiner 
Umgebung so und nicht anders gesehen werden kann. Er nennt sich White, um diese 
Veränderung nach außen zu projizieren. Er schreibt allerlei Dinge, um eine 
schlichte Wahrheit buchstäblich in die Welt hinaus zu brüllen:  "Ich bin nicht 
Stiller." Ja, er ist kein Gefangener seiner selbst, und er will nicht nach 
Jahren von irgendeinem ehemaligen Freund, dem er zufällig begegnet, gesagt 
kriegen:  "Du hast dich ja überhaupt nicht verändert!" Oh, dies ist eine wahrhaft 
teuflische Angelegenheit. Wenn die zwei  Cowboys in die Höhle gehen, um in ihre 
eigenen Seelen abzutauchen, lässt sich erkennen, warum der Eine ohne den Anderen 
nicht leben kann. Denn beide sind eine Seite der Medaille. Die Verschiebung 
geschieht auf die andere Seite hin. Fällt die Medaille auf die selbstgewählte 
Seite, dann kann der Kapitän der Fußballmannschaft wählen, in welche Richtung 
der Spielfluss des eigenen Teams gehen soll. Nicht anders ist es mit dem Cowboy, 
der sich selbst wählt, und somit in die Richtung der Menschen reitet, die er 
liebt, und von denen er für das Unzeitliche in ihm selbst geliebt 
wird.
Es ist immer die Verschiebung, 
  für die der Mensch geliebt wird. Es ist immer das Unzeitliche, das Göttliche 
  in ihm selbst. Alles andere ist Lug und Schwachsinn. Menschen verändern sich, 
  und diese Veränderung ist ein Prinzip, das durch sämtliche Romane von Max Frisch 
  hindurchgeht. Eines aber darf in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden: 
  Der Mensch fällt in das Zeitliche hinein, indem er Rollen verkörpert. Und Rollen 
  sind es auch, die Gantenbein verbissen beherrscht. Er spielt den Blinden und 
  macht seiner Umgebung vor, ein ganz Anderer zu sein. Dieses Rollenspiel ist 
  die verbindende Kraft, die häufig zwischen Mann und Frau passiert. Der Mann 
  stellt sich meist ins beste Licht, plustert sich auf, schreit  "Kikeriki" oder
 
  "Du schaust ja so gut aus", und damit ist das Herz der Herzensdame erobert. 
  Erst Jahre später wird die Maskerade zu einer billigen Komödie stilisiert, und 
  die Wahrheit kommt ans Tageslicht. Und die Wahrheit ist es, welche am wenigsten 
  ertragen werden will. Davor hat der Mensch Angst, also willigt er in die Komödie 
  der substanzlosen Mann-Frau-Beziehung ein und verrät sich dabei über Jahrzehnte 
  selbst. Die Kirche erteilt dazu den Sanktus, und alle Freunde, Bekannten und 
  Verwandten rufen dazu Halleluja. So einfach ist es aber eben nicht. Unter der 
  Oberfläche brodelt es, und Frisch beschreibt auf unnachahmliche Weise, wie diese 
  äußeren Gefälligkeiten auseinander stieben und endlich die Tiefen menschlicher 
  Gefühlsdimensionen kenntlich werden. Das Problem der Identität ist am besten 
  über das Verständnis der Rollen erklärbar. Diese Rollen verkörpert jeder Mensch. 
  So ist es etwa schicklich, dass sich der Mann über den Beruf definiert, und 
  die Frau über die Kinder. Was heißt das eigentlich? Der Mann blüht auf in seiner 
  beruflichen Identität, und die Frau in der Identität als Mutter!? Aber was ist 
  das für ein Unsinn, eine einzige Rolle als besonders prägend zu definieren? 
  Der Mensch etwa, der einen Mord begangen hat, bleibt immer nur der Mörder.  "Ja, 
  das ist der, der den X um die Ecke gebracht hat." Eine andere Zuordnung will 
  man nicht zulassen. Diese unsagbaren Idiotien brechen in den Romanen von Max 
  Frisch auf. Es sind wahrhaft identitätsfördernde Geschichten, die erzählt werden. 
  Und insbesondere bei "Homo faber", "Stiller" und "Mein 
  Name sei Gantenbein" ist es unmöglich, das Spektrum unauflöslicher Identitätsvoraussetzungen 
  zu verstehen, insofern die Bücher nur einmalig gelesen werden. Die ganze Bandbreite 
  öffnet sich erst bei mehrmaligem Lesen. Der "Stiller" ist im Übrigen so perfekt 
  durchkomponiert, dass zum besseren Verständnis zwei Bände voll Materialien existieren, 
  wodurch ein wenig hinter die Strukturen dieses prächtigen Romans gelinst werden 
  kann.
  Max Frisch wurde am 15. 
Mai 1911 in Zürich geboren. Bis 1954 (in diesem Jahr erschien "Stiller") betrieb 
er ein Architekturbüro und war im Übrigen als Architekt sehr erfolgreich. 
Neben seinen drei brillanten 
  Romanen schrieb er viele Theaterstücke, von denen "Andorra" und "Biedermann 
  und die Brandstifter" wohl die bekanntesten sind. Besonders berührend ist seine 
  vorletzte Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän", wo ein alter Mann in 
  einer von Schnee umfangenen Hütte sein Leben auf ungewöhnliche Weise rekapituliert. 
  Max Frisch ist neben 
Friedrich Dürrenmatt (mit 
  dem er einen regen Briefwechsel betrieb) der bekannteste und der Meinung des 
  Rezensenten nach auch beste Schweizer Autor des 20. Jahrhunderts. Er starb am 
  4. April 1991 nach einem langen Krebsleiden in Zürich.
(Jürgen Heimlich; 04/2003)
Max Frisch: "Stiller"
Manesse, 2003. 704 Seiten.
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