Karin Fossum: "Schwarze Sekunden"


Das schrecklichste Verbrechen, das man einer Mutter antun kann, ist ihr ihr Kind wegzunehmen. Genau das passiert Helga Joner, deren zehnjährige Tochter Ida von einem kurzen Einkaufsbummel nie wieder zurückkehrt. Die Suche nach Ida verläuft lange Zeit ergebnislos, obwohl sich fast das ganze Dorf daran beteiligt. Als Ida schließlich tot gefunden wird, trägt sie ein weißes Kleid und sieht eigentlich so aus, als wäre sie ein kleiner schlafender Engel. Das findet zumindest Komissar Sejer, der mit den Ermittlungen in diesem schrecklichen Fall betraut wurde. Außer dem weißen Kleid und einer Feder von einem Papagei gibt es keine Spuren, die auf den Täter hinweisen. Wurde Ida von dem autistischen Emil Johannes, von dem eigentlich niemand weiß, ob er sprechen kann, ermordet?
Was ist mit Idas Cousin Tomme, der wie verändert wirkt, und dessen Freund eine ziemlich zwielichtige Gestalt ist?

Karin Fossums Roman, "Schwarze Sekunden", wirft Fragen über Fragen auf, doch Komissar Sejer, den dieser Fall mehr belastet, als er vielleicht zugibt, ermittelt mit dem ihm eigenen Feingefühl. Sejer ist kein schafsinniger Beobachter wie Van Veeteren, kein Snob wie Eric Winter und sicher auch kein Chaot wie Kurt Wallander. Sejer ist der Psychologe unter den Kommissaren, ein guter Zuhörer, bei dem man sich alles von der Seele reden will. Ihm gelingt es schließlich auch, den vermeintlich stummen Emil Johannes zum Reden zu bringen.
Und so bringt er schließlich auch die Wahrheit ans Tageslicht. Eine Wahrheit, wie sie grausamer nicht sein könnte, und an der schließlich eine ganze Familie zerbricht.

"Schwarze Sekunden" wird aus der Sicht mehrerer Personen erzählt. Aus der Sicht von Ida, die sich nichts so sehr wünscht wie ein eigenes Haustier. Aus der Sicht ihrer Mutter, die ihr einziges Kind verliert. Eine Tatsache, die sie nicht sehr überrascht, weil sie eigentlich immer schon gedacht hat, dass Ida zu perfekt sei, um auf dieser Welt zu leben. Aus der Sicht von Idas Cousin, der einen Autounfall gebaut hat und jetzt von seinem zwielichtigen Freund erpresst wird. Und schließlich auch aus der Sicht von Emil Johannes, einem 50jährigen Autisten, der allein lebt und dessen Mutter die einzige Person ist, zu der er Kontakt hat.

Wie in Hakan Nessers "Der unglückliche Mörder" zieht auch hier ein unabsichtlich begangenes Verbrechen ein weiteres nach sich, und ohne es zu wollen, zerstört ein eigentlich ganz normaler Täter das Leben vieler Menschen.

Am Ende des Romans sind alle Fragen, die sich am Anfang gestellt haben, beantwortet. Und trotzdem ist man nicht zufrieden. Man ist nicht zufrieden, weil es eigentlich keinen "bösen" Täter gibt. Der Mörder ist gestellt und wird sicher auch für seine Verbrechen bestraft werden. Aber ein Verbrecher im herkömmlichen Sinne ist er nicht. Er wurde aber auch nicht von der Gesellschaft, seinen Eltern oder jemand Anderem zum Verbrecher gemacht. Es ist vielmehr so, dass sich sein Leben durch einen schrecklichen Fehler von einer Sekunde zur anderen komplett verändert hat und dass alles, was danach passiert ist, auf Unreife und Feigheit zurückzuführen ist.

"Schwarze Sekunden" zwingt den Leser dazu, sich Gedanken zu machen, wie leicht es passieren kann, dass das eigene Leben und das Anderer durch Unachtsamkeit oder einen dummen Zufall zerstört wird. Wo liegt der Unterschied zwischen Verbrechen und Schicksal? Wie soll man mit einem "unabsichtlichen" Täter verfahren? Dies alles sind Fragen, die am Ende der Geschichte offen bleiben. Und auf die wohl niemand - weder der Leser, noch die Autorin eine Antwort finden kann.

Nach dem Lesen des Buches wird einem klar, wie oft es leider auch im wirklichen Leben zu ähnlichen schrecklichen "Geschichten" kommt. Ob der Täter nun gefasst wird oder nicht, am Ende bleibt immer eines: Das unvorstellbare Leid von Müttern, Vätern, Geschwistern oder Freunden und ein Schmerz, der nie ganz vergehen wird.
Mir hat "Schwarze Sekunden" gut gefallen. Vor allem hat mich die Tatsache beeindruckt, dass es zwar einen eindeutig Schuldigen gibt, der im Laufe der Geschichte sogar noch weiter in den Strudel aus Lügen und Verbrechen gezogen wird. Trotzdem gibt es aber eigentlich keinen Verbrecher, oder zumindest ist es so, dass der eigentliche Verbrecher nicht der Schuldige ist.

Sejers Art zu ermitteln ist, wie auch schon in den bisherigen Büchern wie "Dunkler Schlaf" beeindruckend. Er überzeugt nicht durch Vorwitzigkeit oder Scharfsinn sondern durch Menschlichkeit. Konrad Sejer kann sich in die Personen, mit denen er es zu tun hat, hineinversetzen. Er kann ihre Gefühle erahnen und macht es ihnen leicht, etwas zuzugeben.

Das "Verbrechen" an sich erschreckt uns dadurch, dass das einzige Verbrechen beschrieben wird, das beinahe alle Menschen auf die gleiche Art und Weise berührt. Der Tod eines Kindes ist schlimmer als alles, was wir uns vorstellen können. Er betrifft uns alle, weil er uns vor Augen führt, wozu ein Mensch fähig sein kann, und weil er uns das nimmt, an dem wir, ob wir wollen oder nicht, am meisten hängen.

Karin Fossums Art und Weise zu erzählen macht es dem Leser schwer, das Buch aus der Hand zu legen. Geschickt baut sie immer wieder Spannungen auf und schafft es, dass sich der Leser mit den handelnden Personen identifiziert. Dies ist vor allem dadurch möglich, dass ihre Figuren aus dem richtigen Leben genommen scheinen. Sejer, ein verwitweter Kommissar, der es nicht schafft, seinen totkranken Hund einschläfern zu lassen, und das Feingefühl hat, das wir uns wünschen. Sein Assistent Skarre, der gern so sein möchte wie er Chef, aber eine gewisse Tollpatschigkeit an den Tag legt. Tomme, ein 18jähriger Schüler, der - auch wenn er es gern sein möchte - noch nicht erwachsen ist, und trotzdem gezwungen wird, allein mit Dingen fertig zu werden, die sogar den abgebrühtesten Erwachsenen erschrecken. Helga Joner, eine Mutter, der der Lebensmittelpunkt genommen wird. Eine Frau, die seit jeher mit der Angst um ihr Kind lebt, die diese Angst überwindet, und der genau dann ihr Ein und Alles genommen wird.  Und schließlich Ida mit ihren großen braunen Augen, die sich ein Tier wünscht, Süßigkeiten kauft und Stellvertreterin ist für alle Kinder. Ida ist nicht nur Ida. Ida steht für alle Kinder, um die sich jemand Sorgen macht, weil sie einfach so sind, wie sie sind, und die trotzdem fast immer wieder nach Hause kommen. Aber Ida steht leider auch für die viel zu große Anzahl von Kindern, die nicht mehr nach Hause kommen (aus welchen Gründen auch immer), um die jemand weint und die eine unvorstellbare Leere hinterlassen.

Karin Fossum ist es wieder einmal gelungen mit ihrem unglaublichen psychologischen Feingefühl Personen zu zeichnen und eine Geschichte zu erzählen, wie sie schrecklicher nicht sein könnte.
Alles in allem ein Roman, der tiefer unter die Haut geht, als es uns manchmal lieb ist.

Karin Fossum, Jahrgang 1954, arbeitete als Krankenschwester in psychiatrischen Anstalten, bevor sie ihre Karriere als Autorin begann. Heute lebt sie in Sylling bei Oslo.

(Anna Mehlmann; 03/2004)


Karin Fossum: "Schwarze Sekunden"
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Piper, 2003. 300 Seiten.
ISBN 3-492-04547-2.
ca. EUR 18,90. Buch bestellen
Hörbuch:
Der Hörverlag, 2004. 4 CDs; Laufzeit 309 Minuten.
Sprecherin: Nina Petri.
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Ergänzende Buchtipps:

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