Richard Ford: "Eine Vielzahl von Sünden"

Untreue Seelen


Richard Fords Erzählband umkreist das Thema Ehebruch

Ohne große Reue, aber meist auch ohne verletzende Absicht brechen die Männer und Frauen in Richard Fords Geschichten das sechste Gebot, doch ihre Affären, ihre Geständnisse, Andeutungen und Missverständnisse kulminieren kaum in Ereignissen von biblischer Dimension. Obschon ein junger Ehemann seiner Angetrauten nach ihrer Beichte der Untreue - für ihn so überraschend wie für sie - die Nase blutig schlägt ("Unter dem Radar") und eine von Fords Protagonistinnen bei einem Ausflug mit ihrem Geliebten am Grand Canyon versehentlich zu Tode stürzt ("Abgrund"), ist eigentlich für Dramatik oder gar Gewalt kein Platz in der vernunftbetonten Mittelstandswelt der alltäglichen Helden.

So muss sich die Pflichtverteidigerin Nancy Marshall ("Nachsicht") auf einer Reise durch Maine zögernd eingestehen, dass ihre durch einen Seitensprung ihres Mannes zerrüttete Ehe "mit großer Wahrscheinlichkeit" am Ende ist. Allerdings "nicht so, wie die Klienten, die sie verteidigte, ihre Situationen auflösten - durch den Einsatz von Bedeutungsträgern wie Whiskeyflaschen, Besenstielen, Stoßstangen, Schusswaffen, scharfen oder brennbaren Gegenständen oder einer kräftigen Portion Faust. Dort wurden Botschaften plötzlich und temperamentvoll überbracht, in einem schroffen, körnigen Licht, mit aufgedrehter Lautstärke und weit aufgerissenen Türen, vor aller Welt. (Und ihre Aufgabe bestand darin, die Angelegenheiten dieser Leute in ruhigere, empfindsamere Gewässer zu steuern, damit alles auf feinere Weise verstanden, empfunden, erlitten werden konnte.) Sie und Tom, im Grunde anständige Menschen, würden einen anderen Weg beschreiten müssen."

Fords Charaktere sind nicht wirklich unglücklich in ihren arrivierten Karrieren, ihrem geordneten Dasein und ihren eingespielten Beziehungen - Ehe ist das "Alleinsein mit jemandem, den man kannte und liebte", resümiert Nancy einmal in leicht resignativer Zufriedenheit. Man hat sich mit vielen Unzulänglichkeiten - den eigenen, den der anderen und der des Lebens an sich - recht gut arrangiert und ist um einen zivilisierten Umgangston bemüht, Verletzungen fügt man einander beinahe nur aus Versehen zu.

Was sie dann doch dazu treibt, ihre Partner in Gedanken, Worten und Taten zu betrügen, bleibt ihnen zumeist trotz redlicher Bemühungen, ihre widersprüchlichen Emotionen zu verstehen, selbst rätselhaft. Selten sind es ausschließlich eindeutige Gründe wie starke sexuelle Anziehung, die die Figuren in den Seitensprung stolpern lassen. Latente Unzufriedenheit, das unbestimmte Gefühl, etwas zu versäumen, die noch nicht ganz aufgegebene Hoffnung auf ein undefinierbares "Mehr" scheinen Motivation genug, der Versuchung nachzugeben und das vertraute Leben aufs Spiel zu setzen.

Der Ehebruch ist "ein Mittel für Übel, die man auf keine andere Weise kuriert bekam. Und ein Mittel, bei dem Vorsicht geboten war." Vor allem für die Betrogenen, die Menschen, denen "das Leben als stetiges Kontinuum versprochen worden" war, kann ein Seitensprung alles zerstören, was gerade noch als sicheres Fundament eines Lebens empfunden wurde. Der Betrug macht "den ganzen Rest zu einem Witz", als einem jungen Ehemann mit einem Schlag klar wird, "dass er seine Frau eigentlich überhaupt nicht kannte; ja dass das gesamte Konzept, einen anderen Menschen zu kennen - das Konzept des Vertrauens, der Nähe, der Ehe selbst -, zwar nicht gerade eine Lüge war (denn irgendwo existierte es ja, zwar nur als Idee im Lebens seiner Eltern, zumindest in Restbeständen), aber doch vollkommen überholt, erloschen, typisch für eine andere Zeit und jetzt leider hinfällig."

Wie im Eheleben ist für die ganz großen Gefühle, oder zumindest solche, die man klar benennen und verstehen könnte, auch in den Liebschaften kaum Platz, ihr Ende oft nüchtern und seltsam leidenschaftslos. "(...) es sei Zeit, Schluss zu machen", stellen nach zwei Jahren heimlicher Treffen Henry und Madeleine ohne besonderen Anlass fest ("Revier"). "Sie liebten sich - und dazu standen sie beide. Möglicherweise waren sie aber nicht verliebt (Madeleines Unterscheidung). Verirgendwas waren sie aber, sie wusste es, und vielleicht war dieses Irgendwas noch besser als Liebe und hatte sein eigenes, intensives, zeitloses Gewebe, ein Innenleben von heftiger Wildheit und hinreißenden Höhen. Was es genau war, blieb verschwommen. Aber nichts war es nicht gewesen."

Nicht einmal eine potenziell dramatische, letztendlich aber lediglich absurde und lächerliche Begegnung Henrys mit Madeleines Mann, der sich als von ihr selbst engagierter Schauspieler herausstellt, durchbricht die melancholische Abgeklärtheit, die Enttäuschung ebenso wie Gleichgültigkeit verbirgt: "Jetzt sollten sie mal von was anderem reden. Eishockey." Und am Ende bleibt nur die ernüchternde Erkenntnis, "dass eine gemeinsame Zukunft mit einem anderen Menschen einfach keine besonders gute Idee war - und er sollte vielleicht endlich mal anfangen, das zu begreifen."

Die in "Eine Vielzahl von Sünden" auf das Thema Ehebruch konzentrierte Beschäftigung mit der menschlichen Natur und ihren Schwächen und Unsicherheiten, all den unerfüllten Sehnsüchten und verpassten Chancen, den Bruchstellen von Existenzen und dem vielschichtigen Verhältnis von Mann und Frau prägt das gesamte Werk von Richard Ford, der zu den profiliertesten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt. Dem 1944 in Jackson, Mississippi, geborenen Schriftsteller gelang 1986 der Durchbruch mit seinem Roman "Der Sportreporter". Für dessen 1996 erschienene Fortsetzung "Unabhängigkeitstag" erhielt er sowohl den Pulitzer-Preis als auch den PEN/Faulkner-Award. Ford veröffentlichte bisher mehrere Romane und Novellen sowie zahlreiche Short Storys, von denen besonders die Sammlung "Rock Springs" großes Aufsehen erregte.

Wie "Aussicht", die kürzeste und zugleich eine der besten Geschichten des Bandes, bieten die meisten seiner zehn neuen, manchmal leider etwas schlampig übersetzten Erzählungen einen gelungen verdichteten Einblick in entscheidende Momente eines Schicksals. Nimmt man die Qualität von Fords bisherigem Schaffen als Maßstab, so ist der zwiespältige und irritierende, vage unbefriedigende Eindruck, den "Eine Vielzahl von Sünden" ob der Unergründlichkeit, der Uneindeutigkeit von Gefühlen, Handlungsmotivationen und der Bedeutung von Ereignissen zeitweilig hinterlässt, nicht Ausdruck der diesmal versagenden schriftstellerischen Fähigkeiten des Autors, sondern kunstvolle Reflexion der seelischen Befindlichkeit seiner Protagonisten.

Sätze wie "Die Liebe (...) war eine langwierige Serie belangloser Fragen, ohne deren Antworten man unmöglich leben konnte" oder "Das Leben war voll von ernsthaften, aber bedeutungslosen Gesprächen" mag man leicht als unerträgliche Binsenweisheiten abstempeln; sie entsprechen aber nur allzu oft der Wahrheit des eigenen Erlebens. Philosophische Einsprengsel hin, realistische Erzählkunst her, das Denken erspart Richard Ford dem Leser sicherlich nicht, im Gegenteil, die Lektüre provoziert unweigerlich eine Menge unbequemer Fragen.

Auf einen gründlich verpatzten Jagdausflug mit seinem betrunkenen Vater zurückblickend, findet einer von Fords durch seine Kindheit innerlich vernarbten Ich-Erzählern, dessen Eltern beide durch Affären - der Vater mit einem anderen Mann, die Mutter mit einem farbigen Pianisten - ihre Ehe und ihre gesellschaftliche Stellung im New Orleans der früher 1960er-Jahre zerstört haben ("Ruf"), zumindest angesichts der schmerzlich vermissten Vollkommenheit auch nur eines einzigen Augenblicks eine resignierte, für die meisten der Charaktere aus "Eine Vielzahl von Sünden" aber scheinbar durchaus brauchbare Lösung: "Der Kniff bestand darin, sich an diese Unvollkommenheit zu gewöhnen, weil man sonst auch noch das bisschen Glück verpasste, das trotz allem möglich war."

(sb; 04/2003)


Richard Ford: "Eine Vielzahl von Sünden"
Originaltitel: "A Multitude of Sins."
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert.
Berlin Verlag.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Die Lage des Landes"

Wiedersehen mit Frank Bascombe, dem Helden von "Der Sportreporter" und "Unabhängigkeitstag" - er ist 55 Jahre alt und freut sich, mit schöner Strandvilla und zweiter Ehefrau Sally, auf den nächsten, ruhigeren Lebensabschnitt. Die "Permanenzphase", wie er dieses Hochplateau des erfüllten Lebens nennt, erweist sich jedoch als trügerisch: Sallys erster, tot geglaubter Ehemann taucht wieder auf, und sie geht mit ihm fort, um die Dinge zu klären. Kurz darauf wird bei Frank Prostatakrebs diagnostiziert.
Und nun naht Thanksgiving, das us-amerikanische Fest der Familie. Wie fest der Boden unter seinen Füßen wirklich ist, muss sich bei jedem Schritt neu zeigen.
In dem ominösen Millenniumsjahr 2000, dessen Herbst von den "gestohlenen Wahlen" und George Bushs billigem Triumph geprägt ist, zieht Frank Bascombe, der nette, vernünftige Nachbar, Bilanz. Wie die Dinge liegen in seinem Leben und an der Küste von New Jersey, das beschreibt er mit Detailschärfe und großem Humor und denkt nach über Loslassen und Verlust, über die eigene Lebensleistung und Vergänglichkeit  - und über die Hoffnung, denn, ja, nach allen erdbebenartigen Umwälzungen, die dieser Roman grandios, einfühlsam und mitreißend schildert, hat Frank noch einiges vor sich. (Berlin Verlag)
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