Jasper Fforde: "Im Brunnen der Manuskripte"


Das Warten auf Godot nimmt endlich ein Ende!

Nach all den prekären Abenteuern "In einem anderen Buch" wollte Literaturagentin Thursday Next eigentlich nur eines: die langverdiente Schaffenspause einlegen, sich in einem ruhigen Roman zurückziehen, ihr Kind gebären und die "Re-Aktualisierung" des "genichteten" Lebensgefährten Landen Parke-Laine in die Wege leiten. Hinter den Seiten von "Caversham Heights", einem langweiligen Krimi, glaubte Thursday das alles gemächlich tun zu können. Weit gefehlt! Allerlei Fallen und Schurken säumen den Weg, der die frischgebackene Jurisfiktion-Ermittlerin (ja, sie hat ihre Stelle bei SpecOps verlassen) schnurstracks in den Brunnen der Manuskripte führt. Und hinter (fast) allem steckt UltraWordTM. Jurisfiktion? Brunnen der Manuskripte?? UltraWordTM???

Der Reihe nach: Jurisfiktion ist jene Polizeibehörde, die zwischen den Zeilen wirkt, um die Integrität der Buchtexte zu gewährleisten und "Seitenläufern" (Seite 8 gibt Auskunft über diese Gesetzesbrecher) ein Bein zu stellen. Jurisfiktion-Agenten werden vom übergeordneten GattungsRat meist aus dem reichen Fundus literarischer Figuren rekrutiert, aber auch durchsetzungsfähige "Außenländer" wie Mrs Next stehen auf der Gehaltsliste.

In den Brunnen der Manuskripte werden sich viele, die diese Zeilen lesen, selbst schon hineingebeugt, wenn nicht gar von seinem (nicht vorhandenen) Wasser gekostet haben. Es ist jener 26 Stockwerke tiefe, subterrane Ort, an dem "Texte geschmiedet, zusammengebaut, geputzt und poliert werden", ehe sie später als Bücher in der darüber liegenden Großen Bibliothek in eine der 26 oberirdischen Etagen gelangen - oder in die Regale von uns Außenländern. In den Korridoren des Brunnens geht es mitunter recht schmutzig und chaotisch zu. Kein Wunder bei all den verschiedenen Handwerkern, die darin ihrer Profession nachgehen: Plottschmiede, Lochflicker, Grammatacisten, Tempomacher, Stimmungsmischer, Textsieber oder Paginatoren, um nur die wichtigsten anzuführen.

Zur wahren Plage sind die Grammasiten geraten, die "rein biologisch von den Gerundien abstammen". Während diese Schädlinge in der Großen Bibliothek äußerst selten vorkommen und dort rücksichtslos bekämpft werden, stößt der Unachtsame im Brunnen der Manuskripte sehr leicht auf sie. Auch Thursday blickt mehrfach in ihre "bösartig blitzenden Augen, die von mindestens tausend gemordeten Verben genährt sind". Orthografisch fatal, aber wahr, diese Monstren fressen regelmäßige Zeitwörter. Das rettende, aber leider nicht immer anwendbare Gegenmittel: unregelmäßige Verben. Diese "verwirren ihre kleinen Gehirne und schlagen sie in die Flucht".

Wenn solch garstige Wortparasiten Ihnen keine Angst einjagen und Sie den Brunnen mal selbst besuchen möchten, ein kostenloser Rat: Für etwaige Notfälle unbedingt den Interpunktionskoffer packen und Courier bold lernen, die meist verbreitete Sprache dort unten.

UltraWordTM ist ein Betriebssystem, das von TextGrandCentral (TGC) entwickelt worden ist. Es soll die Welt der Belletristik revolutionieren. Doch Agentin Next hegt starke Zweifel an dieser literarischen Wunderwaffe. Plant TGC ein Machtmonopol, das neue Handlungsfäden unterbindet und möglichst viel Profit aus dem memory fading wie auch der "Drei-Leser-Regel" (wieder so eine Schurkerei) zu schlagen trachtet? Thursdays Ermittlungen werden durch den Tod mehrerer Jurisfiktion-Kollegen bzw. das Auftauchen der alten Erzfeindin Aornis Hades, welche ihr schon "In einem anderen Buch" das Lebenslicht ausblasen wollte, erschwert. Diesmal sorgt die nicht tot zu kriegende Unterweltlerin, deren Familie selbst Vlad der Pfähler als "unsagbar scheußlich" empfand, in Form einer Mnemonomorphen für Unheil. Vertreter jener zungenbrecherischen Zunft verwirren die klare Gedankenfassung so exzessiv, dass ausführliche Erklärungen über ihr schändliches Treiben hier zum Wohle der Lesenden ausbleiben müssen.

Als wären der Übel nicht schon genug, muss Agentin Next auch noch vor einer unheilbaren Seuche auf der Hut sein. Das Mispeling Vyrus grassiert im Brunnen der Manuskripte. So gefährlich es auch ist, mittels einer vorangetragenen Karotte kann es leicht ausfindig gemacht werden. Und so geht’s: Wird aus dem orangefarbigen Gemüse eine Kartoffel, Karosse oder in seltenen Fällen ein Pavarotti, heißt es, mit Wörterbüchern gnadenlos zuschlagen, ohne dabei selbst infiziert zu werden. Thursday Next agiert darin fast so talentiert wie einst Agent Konrad Duden. Doch für bereits mit dem Vyrus Infizierte wird das Krankenbett zum umnachteten Danke, nett.

Viel gäbe es noch zu erzählen: von wissbegierigen "Rohlingen", desillusionierten Helden (Kapitän Nemo: "Ich bin nur ein exzentrischer Einzelgänger, der auf eine Fortsetzung wartet, die womöglich nie geschrieben wird, fürchte ich."), dem/der Großen Pajandrum oder Big Martin, welcher Cashews hasst. Hätte er keinen Namen, wäre Martin wohl das namenlose Böse, ebenso mysteriös wie ein gewisser Godot. Dieser unhöfliche Zeitgenosse ließ Generationen von Theatergehern und Lesern gleichermaßen warten. Und das Warten würde kein Ende nehmen, wäre sein Kopf nicht auf einem Kissen in Thursdays Schrank gefunden worden, was sein Fernbleiben wohl einigermaßen entschuldigt.

Wie in den beiden vorangegangenen Abenteuern von Thursday Next kommt auch "Im Brunnen der Manuskripte" keine Handlung im herkömmlichen Sinn zustande. Lediglich ein sehr dünn gewobenes Leitmotiv klingt bis zum Schluss des Romans mit. Für manch Leser ungewohnt, aber von Fforde gewiss nicht ungewollt. Viele der Kapitel könnten für sich alleine stehen und Stoff für eigene Geschichten liefern, was dem walisischen Autor zahlreiche Optionen hinsichtlich weiterer Next-Abenteuer offen lässt. Für Jasper Fforde mittlerweile typisch: sein gewitztes Interagieren und Kokettieren mit Romanfiguren der Weltliteratur, ausgeliehen von Beckett, Brontë und Dickens, über Orwell, Poe und Swift bis Verne.

Ebenso charakteristisch: Ohne aufdringlichen Zeigefinger kritisiert Fforde den technologievernarrten Zeitgeist. War es "In einem anderen Buch" die Biotech der Goliath Corporation, kriegt diesmal die IT-Branche ihr Fett ab. "Fußnotofone" persiflieren die Handybesessenheit, während Ähnlichkeiten zwischen TextGrandCentral und Microsoft wohl beabsichtigt sind.

Fazit: Wenn beißende britische Satire mit Einschüben wie "...und auf dem Tisch lag ein partiell sezierter Grammasit, in dessen Eingeweiden halbverdaute Wörter steckten" Sie zum Schmunzeln bringt, freuen Sie sich schon jetzt auf das vierte Abenteuer von Thursday Next, in dem Hamlet höchstpersönlich zum Schluss kommt, dass etwas gewaltig stinkt ... und nicht nur im Staate Dänemark!

Der Rezensent verweilt derweilen "Im Brunnen der Manuskripte" grübelnd über dem Schlusssatz: "Wer hat nun eigentlich Godot umgebracht?"

(lostlobo; 07/2005)


Jasper Fforde: "Im Brunnen der Manuskripte"
(Originaltitel "The Well of Lost Plots")
Übersetzt von Joachim Stern.
dtv, 2005. 413 Seiten.
ISBN 3-423-24464-X.
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