Allen Roy Evans: "Attu"

Die Aleuten-Saga

"Immer war ihr (gemeint sind die Pelzhändler) Blick auf das Ziel gerichtet, noch eine ergiebige Fracht heimzubringen ... dann durften sie sich des Wohlstandes erfreuen, den sie zusammengerafft hatten. Daheim waren sie gesetzestreue Bürger, liebevolle Familienväter und achtbare Nachbarn. Tausend Meilen von der Heimat entfernt wurden sie zu Scheusalen."

(Auszug aus "Attu - Die Aleuten-Saga")


Begegnungen mit der zivilisierten Welt

Die Aleuteninseln, ein 2000 Kilometer langer Inselbogen zwischen dem Beringmeer und dem Pazifischen Ozean, bestehen aus etwa 150 Inseln und sind Teil einer ehemaligen Landbrücke, die einst die Kontinente Asien und Amerika miteinander verband. Das Klima auf diesem vulkanischen Archipel ist rau und unbeständig und die Vegetation karg und ohne Baumbestand. Die Bewohner dieser Inselkette sind, so vermutet man, Nachfahren sibirischer Nomaden, die vor 10.000 Jahren über die damals existierende Landverbindung eingewandert sind. Sie leben vom Fischfang und der Jagd auf Meeressäuger.

Allen Roy Evans schildert in seinem Roman ausführlich das Leben und die Kultur der Aleuten. Der am Ende des Buches angehängten Chronik nach zu urteilen, beginnen die Beschreibungen im 18. Jahrhundert. Handlungsort ist die Aleuten-Insel Attu, auf der Häuptling Zok das kleine Inselvolk führt. Jede Insel hat einen eigenen Häuptling, deren Familien für die Insulaner eine große Bedeutung haben. Die Inselbewohner haben nur wenig Kontakt zu anderen Insulanern. Menschen vom Festland kennen sie nicht. Sie wissen nicht einmal, ob es ein Festland überhaupt gibt.

Zok ist ein weiser Führer der Aleuten. Er hat in den Höhlen, in denen sie ihre Toten bestatten, Knochenfunde entdeckt, die ihrem Aussehen nach zu urteilen nicht von Aleuten stammen können. Es hat also früher ein anderes Volk hier gelebt - und diese Menschen sind heute verschwunden. Gibt es unbekannte Feinde? Könnte das gleiche Schicksal auch den Aleuten bevorstehen? Zok glaubt, dass eines Tages Fremde kommen werden, die die Aleuten vernichten wollen. Auf diesen Angriff müsse man sich vorbereiten. Zok warnt die Bewohner der Nachbarinseln und schlägt ihnen vor, sich zu bewaffnen und Vorratslager anzulegen. Doch die realen Probleme des Alltags wiegen schwerer, als die Angst vor fiktiven Feinden.

Da der Roman das Leben der Aleuten über mehrere Generationen beschreibt, werden keine Personen besonders herausgestellt. Phasenweise wechseln die Akteure, die im Mittelpunkt der Handlungen stehen. Die wörtliche Rede, die es dem Leser leichter machen würde, eine Beziehung zu bestimmten Personen aufzubauen, wird kurz gehalten.

Die Naturbeschreibungen und die Schilderungen der Jagdszenen sind grandios. Die Aleuten beherrschen mit ihren Kajaks die gefährlichen Gewässer. Erstaunlich, dass sie selbst nicht schwimmen können. Die Motivation der Jäger, die Jagdszenen und die Verhaltensweisen der Seelöwen, Wale, Lachse und Seeotter werden lebensnah und eindringlich beschrieben, wie es nur einem hervorragenden Naturbeobachter möglich ist. Man kann nicht sagen, dass die Jäger zimperlich mit ihrer Beute umgehen, wenn sie zum Beispiel Seeotter mit ihren Jungen erlegen, aber die Aleuten jagen nur so viele Tiere, wie sie für ihr eigenes Überleben in dieser Wildnis benötigen.

Genauso echt wie die Jagdszenen werden auch die wechselhaften klimatischen Verhältnisse beschrieben. Springfluten, dichte Nebelbänke, Vulkanausbrüche und die gefürchteten Williwaws (Wirbelstürme) gehören zum Alltag der Aleuten. Manch eine sicher geglaubte Jagdbeute wird durch unberechenbare Naturgewalten zunichte gemacht.

Eine Generation später kommt es, wie es kommen muss. Die Insulaner erhalten Besuch von russischen Pelzhändlern. Zip, der Sohn von Zok, ist mittlerweile Häuptling der Attu-Aleuten. Die Begegnung ist freundschaftlich, trotzdem ist er den Fremden gegenüber skeptisch eingestellt. Sind dies die Feinde, vor denen sein Vater ihn gewarnt hat? Die Russen erkennen, welche Schätze hier zu holen sind und kommen regelmäßig zur Otterjagd. Sie spannen die Ureinwohner für ihre Dienste ein und sind bei der Jagd nicht kleinlich. Ganze Herden werden abgeschlachtet.
Es zeigt sich schnell, wer die neuen Herren sind. Die Ureinwohner werden wie Sklaven behandelt und die Frauen von den Russen vergewaltigt. Nur in wenigen Fällen können die Aleuten sich erfolgreich wehren und die russischen Pelzhändler vertreiben. Aber die Aleuten haben keine Chance, sich dauerhaft von den Unterdrückern zu befreien.

Die Russen sind nicht die Einzigen, die die Inselkette, mit ihren großartigen Naturschätzen, entdecken. Es folgen englische Pelzhändler, die noch kaltblütiger sind als die Russen. Statt direkt mit den Russen die Konfrontation zu suchen, schicken sie die kriegerischen Kolosch, einen brutalen Indianerstamm, in den Kampf. Die Aleuten haben keine Chance, diesen Stellvertreterkrieg gegen diese Barbaren heil zu überstehen.

Erst als die USA im Jahre 1867 Alaska und die Aleuteninseln von den Russen erwerben, erholen sich die Inselbewohner. Während des Zweiten Weltkrieges werden die Inseln Attu und Kiska von Japanern besetzt und es kommt erneut zur Unterdrückung der Ureinwohner. Die Amerikaner erobern die Inseln durch massiven Truppeneinsatz zurück. Auf Attu findet eine blutige Schlacht statt.

Die Amerikaner kommen in den Beschreibungen auffallend gut weg. Gab es keine amerikanischen Pelzhändler? Auch wenn die Amerikaner letztlich die Befreier der Inseln waren, gab es auch durch sie Umsiedlungen und Internierungen. Auch darf man nicht vergessen, dass auf Amchitka, einer der Aleuteninseln, im Jahre 1969 Atombombentests durchgeführt wurden.
Natürlich hat ein Romanschriftsteller die Freiheit, bestimmte Sachverhalte perspektivisch oder gar nicht darzustellen. Aufschluss über den historischen Ablauf gibt die dem Roman angehängte Chronik der Aleuteninseln.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Industrialisierung sich auf der Erde wie eine Seuche bis in die letzten unwirtlichen Landstriche hinein ausgebreitet und die Menschen infiziert hat. Im Bann dieser Doktrin entfesselt der Mensch eine unendlich zerstörerische Gier nach Macht und Reichtum. Könnte nicht ein riesiges kulturelles Erbe bewahrt werden, wenn die Imperialisten die Naturvölker einfach in Ruhe lassen würden?

Den Roman halte ich wegen der fantastischen Naturbeschreibungen, der historischen Elemente und der sozialkritischen Beschreibungen für ein besonders wertvolles literarisches Werk. Viele Menschen sollten diesen Roman lesen, auch weil er der Menschheit einen Spiegel vorhält.

Allen Roy Evans (1885-1965) wuchs auf einer Farm in Kanada auf. Nach dem Studium war er für einige Zeit Hochschullehrer. Neben Kurzgeschichten veröffentlichte er einen Gedichtband und mehrere Romane, die fast alle im hohen Norden spielen. Sein bekanntester Roman ist "Der Zug der Rentiere".

(Klemens Taplan; 09/2003)


Allen Roy Evans: "Attu"
(Originaltitel "The Aleutian Story")
Aus dem Englischen von Edmund Theodor Kauer.
Unionsverlag, 2003. 317 Seiten. 
ISBN 3-293-20271-3
ca. EUR 10,90.
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