Dieter Haller: "dtv-Atlas Ethnologie"


Keine leicht lesbare, aber aufschlussreiche Einführung in die Lehre vom Menschen als kulturellem Wesen

Die dtv-Atlanten zeichnet ein einzigartiges Konzept aus: Diagramme, Schautafeln, Überblickspläne oder Landkarten nehmen die jeweils linke Seite, die der geraden Seitenzahlen, ein. Auf den ungeraden Seiten ergänzen knappe Texte die grafische Information. Lange Erklärungen gegen Bilder und Schemata auszutauschen, ist das Erfolgskonzept der dtv-Atlanten, das bei Fachgebieten wie der Architektur oder der Anatomie augenscheinlich zweckvoll ist. Doch auch abstraktere Wissenschaftsgebiete wie die Grundzüge, Arbeitsweisen und Hauptthemen der Ethnologie können bildhaft präsentiert werden.

Die Ethnologie ist in den deutschsprachigen Ländern - der Autor Dieter Haller konzentriert sich leider häufig nur auf Deutschland - eine junge Wissenschaft, die jedoch in den Teildisziplinen Völkerkunde (mit dem Schwerpunkt außereuropäischer Kulturen) und Volkskunde (Erforschung der eigenen Kultur, vorzugsweise im ländlichen Raum) bereits lange Forschungstraditionen aufweist. In der Folge widmet sich das erste Drittel des Buches der Einführung in die Ethnologie: Begriffsbestimmungen, Darstellungen der Forschungsobjekte, Theorien - auch in nationalen Traditionen - und die missbräuchliche Verwendung von ethnologischen Erkenntnissen u.a. in den USA und im Nationalsozialismus.

Zentraler Teil dieser ersten Kapitel ist der Versuch einer umfassenden und allgemein gültigen Definition von Kultur. Die darin dargestellten Begriffsbestimmungen und Betrachtungsweisen sind für alle Geistes- und Sozialwissenschaften, und sicherlich auch darüber hinaus, wegweisend. Auch dem Begriff der Fremdheit, der Dichotomie zwischen dem Eigenen und dem Anderen als grundlegendem Spannungsfeld der ethnologischen Forschung, widmet der Autor zwei Bild- und zwei Textseiten mit aufschlussreichen und aufklärenden Hintergrundinformationen, die auch ethnozentrische, v.a. eurozentrische Forschungstraditionen der Völkerkunde thematisieren.

Das zweite Drittel des Buches beschreibt die Grundbausteine der Ethnologie, erklärt zentrale Begriffe, anhand derer Kulturunterschiede manifest werden: Dazu gehören kultureller Wandel, Identität und Ethnizität, Körper und Sexualität, Gesundheit und Krankheit, Zeitkonzepte und Zeitrechnungen, Lebenszyklen, Territorium und Raum. Daran schließt sich eine Darstellung der Arbeitsweisen an, die insbesondere den ethnologisch bedeutsamen Gegensatz zwischen Innen- und Außensicht zum Gegenstand hat.

Das letzte Drittel widmet sich dann Schwerpunktthemen der Ethnologie wie Wirtschaft, Politik und Recht, Verwandtschaft, Religion, Kommunikation und Sprache und schafft damit Brücken zu verwandten Wissenschaften wie Soziologie, Linguistik, Politik- oder Religionswissenschaft.

Wer ästhetische, ausdrucksstarke Fotos von Naturvölkern erwartet, sollte eher den empfehlenswerten Bildkalender der Gesellschaft für bedrohte Völker kaufen. Der dtv-Atlas Ethnologie ist eine wissenschaftlich aufgebaute, stellenweise sehr komplexe und informationsreiche Einführung in ein Fachgebiet, in die Lehre vom Menschen als kulturellem Wesen.

Die Aufschlüsselung schwieriger Konzepte und Inhalte in Form von grafischen Darstellungen geht bei diesem dtv-Atlas leider nicht mit einer einfachen, den interessierten Laien entgegen kommenden Sprache einher. Lange, komplexe Sätze mit zahlreichen Nominalisierungen und Passivkonstruktionen sowie ständige Verweise auf Quellen erinnern stark an wissenschaftliche Werke. Der Platzmangel auf den Textseiten führt dazu, dass statt Überschriften nur Inhaltsangaben in den Kopfzeilen zu finden sind, wodurch der Wechsel von einem Kapitel ins andere trotz Farbleitsystem nur schlecht markiert ist. Wahrscheinlich hätte die Arbeit eines erfahrenen Wissenschaftsjournalisten oder Autors populärwissenschaftlicher Bücher das Werk des Autors, des habilitierten Ethnologen Dieter Haller, und des Grafik-Designers Bernd Rodekohr gut ergänzt.

Trotz dieser Mängel, die sich zügiger Lektüre hartnäckig widersetzen, stellt der dtv-Atlas Ethnologie dem Leser erfolgreich das intellektuelle Handwerkszeug zur Verfügung, mit dem er das Wissen über einzelne Gruppen und Kulturen mit dem Wissen über Andere in Beziehung setzen kann und so in der Lage ist, allgemein Menschliches von kulturspezifischem Verhalten zu unterscheiden.

(Wolfgang Moser; 12/2005)


Dieter Haller: "dtv-Atlas Ethnologie"
dtv, 2005. 320 Seiten.
ISBN 3-423-03259-6.
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Dieter Haller, geboren 1962, studierte Ethnologie, Hispanistik und Soziologie in Sevilla und Heidelberg; im Rahmen seiner Doktorarbeit und seiner Habilitation mehrjährige Feldforschung in Spanien und Gibraltar. Er hat am Institut für Kulturanthropologie in Frankfurt den Lehrstuhl vertreten und war Gastprofessor in Hamburg und Granada.

Zwei weitere Bücher aus dieser Reihe:

Erwin J. Haeberle: "dtv-Atlas Sexualität"

Der "dtv-Atlas Sexualität "bietet in der bewährten Verbindung von Texten und Bildtafeln eine Einführung in den heute international akzeptierten Kanon des sexualwissenschaftlichen Grundwissens. Neben der historischen Entwicklung der Sexualwissenschaft beleuchtet er alles, was bei diesem Thema wesentlich und wichtig ist: von der weiblichen und männlichen Anatomie und Physiologie über das Sexualverhalten und sexuelle Störungen bis hin zum gesellschaftlichen Umgang mit der Sexualität. Mit ausführlichem Adressenteil, Bibliografie und Register. Prof. Dr. Dr. Erwin J. Haeberle, geboren 1936, ist Leiter des Archivs für Sexualwissenschaft am Robert-Koch-Institut in Berlin. 1966 wanderte er in die USA aus und war dort u.a. Research Fellow an der Universität Yale, Professor für Sexualwissenschaft in San Francisco und Mitarbeiter des Kinsey-Instituts an der Indiana University. Nach mehreren Gastprofessuren kehrte er nach Deutschland zurück. Zahlreiche Publikationen.
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Dieter Heinrich, Manfred Hergt: "dtv-Atlas Die Erde. Physische Geographie"
"Das Trockene nannte Gott Land, und das angesammelte Wasser nannte er Meer." (Genesis 1,10)
Wenn man sich nicht mit diesen wenigen Worten zur Entstehung der Erde begnügt, sondern, sei es als Schüler, sei es als Student, mehr wissen will über die Zusammensetzung der Erdkruste, über Gebirgsbildung, Gletscher, die Atmosphäre, Niederschlag und Westwinddrift, submarine Formen, Bodenprofile, Pflanzenverbreitung, boreale Zonen und wechselfeuchte Tropen, dann muss man zu diesem Übersichtswerk greifen: Informative Texte und Grafiken veranschaulichen, wie Wüsten entstehen, welche Gebiete erdbebengefährdet sind und welche Küsten von Tsunamis bedroht werden, aber auch weniger spektakuläre Ereignisse, die unser Leben auf der Erde bestimmen.
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