Inge Morath, Karl-Markus Gauß, Kurt Kaindl & Brigitte Blüml (Hrsg.):
"Durch Österreich"


Schon der Buchtitel zu Inge Moraths Bildessay ist ein wenig rätselhaft und vieldeutig: "Durch Österreich" - so rätselhaft und vieldeutig, wie die Abgründe österreichischen Seelenlebens sind. Was soll das jetzt bedeuten? Durch Österreich hindurch! Was frappant an den Schlachtruf der europäischen Frächterlobby gemahnt. Eine Rundreise durch das Hier und Jetzt der Alpenrepublik? Nun, dem ist nicht so. Moraths Bildfolgen geleiten in eine Welt des nahen Gestern. In ein Österreich, das noch gar nicht fern ist und doch den Betrachter befremden muss. Denn was sich ihm in unaufgeregten Grautönen präsentiert, scheint bar jener Modernität, die den Lebensvollzug unserer Tage bestimmt. Morath (1923-2002) hat eine vergessene - um nicht zu sagen: versunkene Vorwelt zum Frühmorgen des Heute auf Zelluloid gebannt. Eine Vorwelt, die zwar viel zum Verständnis der neueren Geschichte Österreichs beiträgt und doch wie abgeschnitten ist. Sie macht unser neoliberal zugerichtetes Land (so Gauß mit gar trefflicher Pointe) nicht mehr begreiflich. Ein Gefühl der Entwurzelung stellt sich unwillkürlich ein.

Unfassbar, dass es sich bei den dargebrachten Impressionen zur Zeitspanne aus den 1950erjahren bis in die frühen 1990erjahre um Ausschnitte unserer Kindheit bzw. aus der Lebenswelt unserer Elterngeneration handeln soll. Man meint ein völkerkundliches Buch in Händen zu halten, welches sich mit einer ganz anderen Lebens- und Erfahrungswelt beschäftigt, einen Daseinskosmos zur Skizze bringt, dessen Geschöpf man mangels Wesensverwandtschaft einfach nicht ist. So fern und fremd scheint das alles und doch ... - es keimt die Ahnung einer Schnelllebigkeit, die bei aller Zukunftsorientierung den Sinn für das gerade erst Verflossene völlig überdeckt. Wir empfinden heute anders, sind von der eigenen Geschichte abgenabelt, geistig und mental vom angelsächsischen Westen kolonialisiert. Oder um es in Abwandlung eines Botho Strauß Zitates über das entseelte Deutschtum auszudrücken: Er gibt sich nur noch aus Faulheit österreichisch, die meisten seiner Regungen und Interessen sind besser auf amerikanisch auszudrücken ...

Gewiss ist die Österreich-Ästhetik der Inge Morath alles Andere als einladend und versöhnlich. Von schroff abweisender Erhabenheit sind die Alltagseinblicke, in einigen Aspekten volkstümlich frömmelnd, dann wieder störrisch im Habitus, urtümlich dumpf, eingebettet in eine Gewöhnlichkeit grauen Biedersinns, dessen Lichtlosigkeit ängstigt, dessen Melancholie trübe stimmt und sich in jedem Augenblick zu jener fatalen Monstrosität auszuwachsen droht, aus deren Schoß jenes Ungeheuer kroch, das unseren Begriff von nationaler Schuldhaftigkeit so nachhaltig zur bedrückenden Dämonie ausformte. Unter der Oberfläche lauert das Abscheuliche, jedoch ebenso das nicht wieder Ersetzliche, worauf einzig ein Versuch authentischer Zukunftsgestaltung aufbauen könnte.

Moraths Bilder bescheiden sich auf das, was einfach nur zu sehen ist bzw. zu sehen war. Obgleich das Auge lyrisch schwelgt - nichts ist hinzugedichtet. Und das, was sich dem Blick des Betrachters bietet, ist grau in grau, steif in der Haltung, karg und von verödetem Gemüt. Die Atmosphäre ist allemal bedrohlich, versteinert (Sphinxen und Steinfiguren dominieren die Motivwahl), doch darin vornehm, ohne Wärme und Herzlichkeit, doch mit distanziertem Charme, vorgeblich delegitimierend, was das Existenzrecht des Österreichers betrifft, der inmitten grandioser Kulturschöpfungen (die ihn erst wieder als Kulturschaffenden rechtfertigen) als deren Abträglichkeit haust, die Eklatanz seiner Widersprüchlichkeit zum übersteigerten Sinn seiner eigenen Werke nicht einmal fraglich scheinen lässt. Dieses Österreichertum war, der Prägnanz seiner Leblosigkeit wegen, die sich, wie Freud erkannte, als selbstgewisse Grundhaltung zum höheren Zwecke verfeinerter Lebensart in Triebverzicht übte, ohne Rechtfertigung für und durch das Leben selbst und musste also untergehen beim ersten Anflug einer "überlegenen" - weil lediglich pragmatischen - alltagskulturellen Hegemonie.

Nur, was kommt nach? Was folgte dem Desaster eines entmenschten Menschentums nach? Das Abendland österreichischer Provenienz ist untergegangen, sein Vermächtnis ist Bauschutt, doch in der verbliebenen Ruinenlandschaft regt sich gar Zweifelhaftes. In seinem zur Bilderserie der Morath einleitenden Essay, in dem es viel um das Vergessen von Unvergesslichem geht, das gering zu schätzen eine - hierzulande gebräuchliche - traurige intellektuelle Konvention ist, die nur legere ist, aber nicht weiterbringt, stellt der Salzburger Karl-Markus Gauß klar, dass nunmehr die Furcht vor einer nationalsozialistischen Wiedereroberung Österreichs nicht mehr auf der Tagesordnung steht, sondern die neoliberale Zurichtung des Landes, die zu einer ganz neuen Form von Rassismus führt. Nämlich zum Rassismus des Wohlstands, dem die Armen gleich welcher Hautfarbe und Herkunft zur verächtlichen Rasse wird. Und selbst auf die Gefahr hin, als verkappter österreichischer Mythomane diffamiert zu werden, fordert Gauß sich nicht mit einem bequemen Lamento über die Vergessensseligkeit abzufinden, sondern dem Vergessen und den Vergessenen in Wort und Bild nachzuspüren.

Es geht also letztlich um die Überwindung der eigentümlich österreichischen Geschichtslosigkeit, welche dann wohl als Gesichtslosigkeit zu erachten ist, der Morath wieder ein Gesicht gibt. Dessen Fratze dann bestimmt nicht übermäßig anziehend sein mag, doch scheint der Österreicher auch nicht zum historischen Beau geboren. Seine Ästhetik ist nicht bar einer wohlgefügten Ambivalenz, mit Anflügen und Verzerrungen ins Hässliche, doch zwischendurch in eingeworfenen Blickmotiven auch begnadet mit Anmut, surrealer Ironie und voll des schlichtweg Schönen, welches bekanntlich - wie uns der Mythos vom schiechen Schönling Narziss lehrt - zu seiner Vervollkommnung des Zuges ins Herbe bedarf. Im Themenkreis des "Wiener Barock" dokumentiert Morath schlussendlich das kunstsinnige Manifest einer ebenso spielerischen wie üppigen Lebensauffassung, die mit dem Hang zur menschlichen Versteifung kontrastiert und Abgründiges vermuten lässt. Das farbliche Leitmotiv der Bilderwelten ist und bleibt ausnahmslos grau; womit nicht suggeriert sein soll, Österreich sei ein Ort des Grauenhaften, sondern lediglich der verblichenen Farbtöne, deren frühere Leuchtkraft fraglich bleibt. Der Mutmaßung eines bloß Grauenhaften würde auch nicht zuletzt die Serie erlesener Künstlerporträts entgegenstehen (H.C. Artmann, Frischmuth, Mayröcker, Pluhar, Wotruba), welche als versammelte Geisteselite die Kulturnation Österreich repräsentieren, obgleich auch deren Angehörige in ihrer Erscheinungsweise bei Morath von unergründlich finsterer Wesensart sind. Einzig das Gemüt der Pluhar verstrahlt ein wenig Sonne; was sie - im Reich der Finsternis - dem Betrachter verdächtig macht.

"Durch Österreich" offenbart dem Buchfreund einen durchaus verhaltenen, weil nie despektierlichen oder gar indiskreten Blick auf eine österreichische Seelenlandschaft und Kulturbefindlichkeit, die es neuerdings, so appelliert Karl-Markus Gauß an das zur Erhabenheit gereifte Kritikvermögen seiner Leserschaft, in seinen kümmerlichen Restbeständen nicht mehr einzig zu überwinden, sondern ebenso zu bewahren und teils zu revitalisieren, weil für Zukünftiges zu nutzen gilt. Nicht als museales Gustostück, sondern als Quell einer Eigentümlichkeit zur kulturellen Selbstbehauptung in Zeiten hegemonialer Globalisierung barbarischen Naturells. Und einmal mehr wird Gauß somit, wie schon mit seinem Buch "Der Mann, der ins Gefrierfach wollte", zum Verteidiger "Alter Welten". Diesmal in geistiger Bundesgenossenschaft mit Inge Morath, die uns in Gestalt der "Alten Welt" das gestrige Österreich entgegentreten lässt, auf dessen morschen und großteils abgetragenen Fundamenten Gauß ein neues, zukunftsreiches Österreich der Eigentlichkeit zu errichten wünscht. Welch tollkühne Vision! Betrachtet man dazu die düsteren Impressionen der Morath.

(Harald Schulz; 05/2005)


Inge Morath, Karl-Markus Gauß, Kurt Kaindl & Brigitte Blüml (Hrsg.):
"Durch Österreich"
Otto Müller, 2005. 128 Seiten, etwa 100 Abbildungen.
ISBN 3-7013-1100-5.
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