Alexandre Dumas: "Die drei Musketiere"


"Die drei Musketiere", ja wer kennt sie denn nicht, diese drei edlen Gefährten des gleichermaßen draufgängerischen wie allzeit verliebten jungen Gascogners d'Artagnan, der im Jahre 1625 als achtzehnjähriger Haudegen nach Paris kommt, um in der Leibwache des Königs Ludwig XIII. zu dienen, welche sich aus Musketieren rekrutiert. Ganz ein jugendlicher Heißsporn handelt er sich gleich am ersten Tag seiner Anwesenheit Duelle mit den drei Musketieren Athos, Porthos und Aramis ein, doch noch bevor die Kampflüsternden aufeinander einstechen können, werden sie von fünf Gardisten des allmächtigen Kardinals Richelieu, der grauen Eminenz am Pariser Hof, zu einem Kampf auf Leben und Tod gefordert. Dieses gemeinsame Kampferlebnis schweißt die vier Musketiere fürderhin zu einer Einheit zusammen, deren aus mehreren Verfilmungen bekannter Wahlspruch "Einer für Alle und Alle für Einen!" heute jedermann geläufig ist.

Der anhaltende und schier zeitlose Erfolg der gewiss mitreißenden Handlung erklärt sich aus einer simplen schwarz-weiß-Malerei von Gut und Böse, Ehre und Ehrlosigkeit, wie sie die klar umrissenen zentralen Charakterfiguren der Handlung präsentieren, deren Typisierung als edel oder als abgrundtief schlecht Alexandre Dumas allerdings im Einzelfall bis ins Extrem vorantreibt, was sodann auch jede Verhaltensfolge rechtfertigt (bspw. todbringende Selbstjustiz). So riskieren die vier Musketiere Kopf und Kragen um die Ehre ihrer hohen Minne, also die Ehre der Königin Anna von Österreich zu retten, welche dieser (sowieso höchst zweifelhaften) Ehre, ob ihrer heimlichen Liebschaft mit dem liebestollen König von England, Buckingham, immerhin ein militärischer Konkurrent des französischen Königs, in der Tat schon längst verlustig gegangen ist. Wesentlich dürfte in diesem Zusammenhang offenbar nicht das Kriterium der Sittlichkeit sein, sondern eine alte ritterliche Tugend des Minnedienstes, der sich der hohen Dame widmet, ohne ernsthaft nach deren Tugendhaftigkeit zu fragen. Die eigentlich geforderte Loyalität mit dem immerhin von seinem eigenen Eheweib mit dem Feind betrogenen König ist demgegenüber nachrangig und bereitet auch keine Gewissenskonflikte.
Im krassen Gegensatz zu dem durch die vier Musketiere verkörperten ritterlichen Edlen steht die geheimnisumwitterte und eigentlich in ihrer Schlechtigkeit maßlos überzeichnete Mylady, eine grausame blonde Schönheit im Dienste politischer Ränke, die jedoch auf sonderbare, obgleich vermutlich nicht beabsichtigte Weise modern und emanzipiert wirkt und als ein Geschöpf, dessen Handeln jenseits von Gut und Böse abläuft, möglicherweise einen Friedrich Nietzsche hätte begeistern können, hätte er dieses 1844 in Frankreich in der Zeitung "Le Siècle" in 82 Folgen als Fortsetzungsroman erschienene Buch noch gekannt (wir wissen heute um sein schmerzliches Augenleiden, das den Philosophen erheblich am Lesen hinderte). Der unerfreuliche Charakter dieser Mylady wird dem Leser vor allem aus mehreren Verfilmungen des Romanstoffes schon geläufig sein, und er wird sich sein Bild davon gemacht haben, doch, Hand auf's Herz, welcher Kinobesucher wünschte diesem bildhübschen Scheusal nicht schon den Tod? Ein stilles Bekenntnis zur Todesstrafe, das sich kritiklos dem im Handlungskontext herrschenden schiefen Gerechtigkeitsempfinden anschließt, es sei denn, der Leser weiß das Böse als perspektivisch zu begreifen, denn auch die scheinbar Guten töten und verletzen ohne viel Bedenken. Und wann kommt es denn sonst schon einmal vor, dass ausgerechnet die reizvolle Blondine es soweit treibt, dass die moralische Entrüstung des Publikums ausgerechnet für diese Schöne nach Lynchjustiz verlangt? Dabei ist ihr Schicksal - verschämt wird's angedeutet - ein tragisches und ungerechtes gewesen und es geziemt einer starken Frau zur Ehre, an ihrer Stigmatisierung als verwerfliche Person nicht längst schon zerbrochen zu sein. In mancher Hinsicht erinnert Mylady übrigens an andere starke Frauengestalten in der Literatur des 19. Jahrhunderts, von welchen beispielsweise die Cameliendame (von Alexandre Dumas dem Jüngeren geschrieben und von Verdi als "La Traviata" zum Bühnengesang vertont) und die gleichermaßen verführerische wie unberechenbare Carmen (aus George Bizets gleichnamiger Oper) demonstrativ zu erwähnen wären. Übrigens, für letztere Frauenfigur schwärmte der genannte Friedrich Nietzsche, ob ihres blutvollen Wesens, das sich selbst noch unter Todesandrohung treu bleibt (die Opernfassung des Themas hat Nietzsche zu enthusiastischen Kommentaren verleitet).

Der Stoff um die drei Musketiere ist übrigens nicht gänzlich erfunden, denn alle Viere lebten wirklich und dienten Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in der königlichen Garde. Das historische Vorbild von d'Artagnan hieß tatsächlich Charles de Batz-Castelmore d'Artagnan und war, genauso wie sein literarisches Abbild, ein Gascogner. Und der längst seiner Sterblichkeit verfallene Armand de Sillégue d'Athos d'Autevielle fand in der Romanfigur des Athos - neben d'Artagnan der Bedeutendste von den vier Musketieren - ein Stückchen Unsterblichkeit, die ihm gewährt bleiben wird, solange es Menschen beliebt, nach opulenten Kostümphantasien zu heischen. Ob die vier Herren jemals einander kannten, bleibt nach dem aktuellen Wissensstand dahingestellt, doch bemühen sich französische Forscher weiterhin um die Aufhellung der geschichtlichen Wahrheit der historischen vier Musketiere. Der Verweis Dumas' auf ein angebliches Memoirenmanuskript, welches seinem Roman zugrunde gelegen sei, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Romanhandlung wie eben auch das Manuskript allein seiner lebendigen Phantasie entsprungen sind. Warum sollte das spannende Geschehen auch mehr als ein bloßes Produkt poetischer Schaffenskraft sein? Für ein Opus wie dieses, bräuchte sich wahrlich kein Autor zu schämen.

So edel, ritterlich und treu wie in Dumas' Historienroman dargestellt, werden die vier Musketiere vermutlich wohl doch nicht gewesen sein, denn ausgerechnet ritterliche Tugenden waren zu einer Zeit, als der "Dreißigjährige Krieg" (1618-1648) die deutschen Lande verheerte, wohl kaum wirklicher als sie heute wirklich sind. Insofern schrieb Dumas nicht weniger aber auch nicht mehr als ein romantisches Rittermärchen, das er in eine Zeit europäischer Konvulsionen platzierte, wohl wissend, dass es so vermutlich nicht gewesen sein konnte, doch dass es so gut ankommen werde.
Dies deshalb, weil der Rückblick auf eine edlere goldene Vergangenheit unter Verhältnissen frühkapitalistischer Ehrlosigkeit den Menschen die Illusion einer besseren, weniger an der Habsucht orientierten Menschheit verhieß, die vielleicht im Hier und Jetzt verdorben sei, doch mit etwas Anstand und gutem Willen schon wieder werden könnte. Die Gattung des Historienromans, der es mit der Historie nicht so ernst nahm, bediente dieses Bedürfnis nach Illusion, welches das Bedürfnis einer geschundenen Kreatur war.
Alexandre Dumas passte sich diesem Zug der Zeit nur an, wobei ihm allerdings ein kleines Kunstwerk gelang, das bei aller gebotenen Kritik doch eine recht vergnügliche Lektüre ist, die wegen des großen Publikumerfolgs zu einem weniger erquicklichen Fortsetzungsroman, zur Musketiertrilogie, ausartete, in welcher sich das genetisch Böse in Gestalt des Sohnes von Mylady, Mordaunt, reinkarniert; was, mit Verlaub gesagt, eine eher peinliche Idee ist. (Die Fortsetzungstitel sind: "Zwanzig Jahre später" und "Der Vicomte de Bragelonne")

Der ritterlich edle Typus des Musketiers wie ihn Dumas in seinem prächtigen Historienroman darstellt, ist romantisch verklärt und hat wenig mit dem Musketier gemein, welcher in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als neuzeitlicher Gewaltexperte Kriegstaktiken revolutionierte. Tatsächlich handelte es sich bei Musketieren um eine sich rasch entfaltende Waffengattung, deren Entwicklung vor allem von protestantischen Rationalisierungspraktikern aus Holland und Schweden mit analytischer Akribie vorangetrieben wurde und die im Laufe der ununterbrochenen Kriegshandlungen dieser Jahre, von einer nachgeordneten, gerade einmal wegen der krachenden Musketenballerei kriegspsychologisch wirksamen Randerscheinung zu einer das Heereswesen bald schon dominierenden und das Schlachtfeld beherrschenden Waffengattung avancierte. Das besondere Wesensmerkmal des Musketiers war seine hoch entwickelte Kampftechnik, denn, während Pikeniere einfach nur grob auf den Feind einzustechen hatten, erforderte die umständliche Bedienung einer Muskete eisernen Drill und hohe Gefechtsdisziplin (weshalb auch europaweit Exerzierreglements eingeführt wurden). Dass Salven verschießende Musketiereinheiten letztlich synchron und verlässlich wie Kampfmaschinen zu funktionieren hatten, ja, gerade die Erfindung des Musketiers den Prozess der Uniformierung und Entindividualisierung des Soldatentypus einleitete, steht im krassen Gegensatz zu der von Alexandre Dumas noch beschriebenen Herrlichkeit sittlicher Individualität in Gestalt der Vieren, die in ihrer eigenen Umwelt als unzeitgemäße Zitate überkommener Rittertugenden wie Fremdkörper aus einer längst verflossenen Zeit erscheinen.

Gerade das einfache und vielfach gescholtene Strickmuster des Romans wird es dem Leser ermöglichen, sich ganz und gar dem spannenden Handlungsrausch hinzugeben, wie auch die leichte Lesbarkeit und sittliche Klarheit dieses Buch als Lektüre für Kinder empfehlenswert macht. Das Gute triumphiert letztlich über das Böse in Gestalt einer selbstbewussten Frau, deren kriminelle Intelligenz mit dem Blond ihrer Haare kontrastiert, was auch einmal eine neue Perspektive darstellt. Ihr Auftraggeber, der Kardinal, bleibt übrigens unangefochten, so wie es sich, bei Anerkennung gesellschaftlicher Macht- und Privilegierungsverhältnisse, für einen ordentlichen Untertanen auch gehört. Das Böse legitimiert sich von selbst, steht es nur hoch genug im hierarchischen Rang. Und dass alle Politik, ja selbst noch der Krieg (als äußerster Ausdruck von Politik), eine bloße Verhaltensfolge menschlicher Leidenschaften wie Habgier, Liebe, Eifersucht ist, mag ein altes Vorurteil sein, welches Dumas mit Verve ausreizt, doch darf sich nicht kritische Theorie erwarten, wer nach einem Mantel- und Degen-Roman greift, dessen einzige Funktion es ist, dem Leser das Flair einer kurzweiligen Lektüre zu offerieren. Dem Anspruch des Amüsements wird Alexandre Dumas jedoch noch allemal gerecht. Spannend und im Takt melodischer Leichtigkeit verfasst, verführt Dumas' Œuvre in eine Welt, wo himmlische Gerechtigkeit noch ihre irdischen Vollstrecker findet. Dieses Buch befriedigt die Sehnsucht nach einer anderen, klareren, besseren (nicht weiter fraglichen) Welt und vermag den Leser für einige wenige Stunden aus seinem tristen Alltag in eben jene andere Wirklichkeit zu entführen. Darin liegt die anhaltende Faszination dieser Lektüre, welche gleichermaßen beseligt wie unterhält. Und gestatten wir uns doch ein wenig romantische Träumerei in dieser Alltäglichkeit harter Fakten.

(Harald Schulz; 26. Juni 2002)


Alexandre Dumas: "Die drei Musketiere"
Taschenbuch:
DTV, 2002. 742 Seiten.
ISBN 3-423-20534-2.
ca. EUR 12,50.
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