Eugen Drewermann: "Ein Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster"


Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Besonderheit: Die Texte entsprechen nämlich "Wortgottesdiensten", die der weitsichtige Theologe 1999 in einer Paderborner Schulaula hielt. Es wurden von zwei fleißigen Damen - Frau Kranz und Frau Köhne - Abschriften nach Tonbänder angefertigt. Eugen Drewermann hält keine Vorlesungen ab. Wer je einmal diesen Mann live miterleben durfte, wird verstehen, was ich damit andeute. Er spricht in einem Duktus, der als einzigartig bezeichnet werden kann. Der Hörer bekommt einwandfrei mit, welche Bedeutung das Ausgesprochene für den Sprechenden hat. Es gibt kein Wort, das darauf hinweist, es wäre hier ein Scharlatan am Werk. Dennoch geschah es etwa anlässlich eines Auftrittes von Eugen Drewermann vor einigen Jahren im Wiener Audimax, dass von einem Vorredner mitgeteilt wurde, ein gewisser Bischof aus St. Pölten hätte lautstark deklamiert, diesen Vortrag nicht stattfinden zu lassen, da der Redner die katholische Kirche verunglimpfe. Der streitbare Theologe aus Paderborn lässt tatsächlich kein gutes Haar an der katholischen Kirche. Er war einst einmal Priester; wurde jedoch aufgrund seiner "ungeheuerlichen Aussagen" suspendiert. Auch die Lehrerlaubnis ist ihm entzogen worden. Tatsächlich dulden die Oberhirten der katholischen Kirche keine Widerrede, und so ist es ein Glück, dass die vielen Bücher entstanden sind, auf die Drewermann mittlerweile verweisen kann. Er nimmt sich kein Blatt vor den Mund, und das ist gut so.

Drewermann beleuchtet in seinen "Wortgottesdiensten" die sieben Laster ("Todsünden"), und zwölf Tugenden. Gänzlich neu ist der Ton, den er anschlägt, wenn er von den Lastern spricht. Er betrachtet Eifersucht und Neid, Eitelkeit und Stolz, Jähzorn, Wollust und Unkeuschheit, Völlerei und Trunksucht, Gier und Geiz sowie Schwermut und Melancholie auf eine Weise, die sich als eine diametrale Position zu den Gegebenheiten erweist. Er stellt die Menschen nicht an den Pranger, die "in der Sünde" sind, sondern sagt unmissverständlich, welche Urgründe hinter diesen Verfehlungen der "Sünder" verborgen sein mögen. Den Dingen auf die Schliche zu kommen, sodass der Mensch eine Motivation hat, sich selbst besser zu verstehen, ist die Quelle, von der aus Lebensläufe ausgebreitet werden. Niemand kommt als Trunkenbold, Dieb, eitler Gockel, Schläger, Geizhals oder Lüstling zur Welt. Die Spuren zu verfolgen, von denen aus der "Sünder" in seiner nackten Angst gezeigt wird und neue Dimensionen sich eröffnen mögen, führt dahin, dem Leser zu teilweise wohl nicht gekannten inneren Erkenntnissen zu verhelfen, von denen dieser persönlich profitieren kann.

Anders bei den zwölf Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, Treue, Demut und Gehorsam, Weisheit, Erinnerung, Geduld, Mut und Tapferkeit, Maß und Mäßigung, Keuschheit und Gerechtigkeit. Hierbei handelt es sich um bekannte Auslegungen des Theologen, die darauf hinzielen, im Menschen existierende Lebensmöglichkeiten als (geistigen) Impuls nach außen zu transportieren, sodass sich die Raupe in einen Schmetterling verwandeln könne. Wer Drewermann ein wenig kennt, der weiß, dass dies sozusagen immer eines seiner Anliegen sein wird. Es schlägt der Therapeut durch, und zwischendurch werden immer wieder Verfehlungen der katholischen Kirche erwähnt. Sehr viele Kernaussagen sind aus anderen Büchern bekannt.

Für einen Leser, der mit Drewermann noch nicht so vertraut ist, mag dieses Buch erhellend sein, da sowohl die theologischen ("Laster") als auch die therapeutischen Seiten ("Tugenden") ins Spiel gebracht werden. Freilich ergänzen sich die beiden Themenkomplexe gegenseitig, sodass von keiner eindeutigen Zuordnung die Rede sein kann. Theologie und Therapie korrespondieren im Kern miteinander; teilweise ist die Verstrickung jedoch sehr komplex, und die Verläufe der Fäden nahezu unsichtbar. Den Lastern und Tugenden sind stets Beispiele aus der Bibel vorangestellt, was die Sache insbesondere für Neulinge nicht gerade leicht macht. Psychologisches Interesse allein mag für den Leser zu wenig sein, um diesem Buch mit einem Gefühl innerer Spannung folgen zu können. Die theologische Komponente spielt zwar, wie bereits erwähnt, in die therapeutische hinein, und umgekehrt; dennoch mag sich die Katze in den Schwanz beißen, wenn insbesondere erstaunlichen theologischen Entwürfen Folge zu leisten ist.

Der Kenner oder gar Stammleser von Drewermann wird mit dem Buch sicher seine Freude haben, da die Auseinandersetzung mit den Lastern introspektive Erkenntnisse auf ungewöhnliche Weise nicht hervorlocken, sondern diese vielmehr aus den Kellern der Seele entladen werden. Es geht neben inneren Möglichkeiten um innere Auflösungen.

(Jürgen Heimlich; juni 02)


Eugen Drewermann: "Der Mensch braucht mehr als nur Moral. Über Tugenden und Laster"
Verlag Walter
607 Seiten
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