Waris Dirie: "Brief an meine Mutter"


Eine mutige Frau öffnet ihre Seele

Waris Diries Bücher sind Bestseller geworden: In "Wüstenblume" erzählt sie die tragische Geschichte ihrer Kindheit in einer somalischen Nomadenfamilie, die in ihrer brutalen, lebensgefährlichen Beschneidung gipfelte und endete, als Waris an einen alten Mann verheiratet werden sollte: Waris flüchtete, zuerst nach Mogadischu, dann zu Verwandten nach England. Sie wurde "entdeckt" und zu einem gefragten Fotomodell, beendete diese Karriere aber möglichst bald, um unter anderem als UN-Botschafterin gegen die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung - denn nichts anderes ist die Beschneidung von Mädchen - zu kämpfen. "Nomadentochter" schildert das Wiedersehen mit ihrer somalischen Familie nach vielen Jahren, das zu einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Persönlichkeit wird, in "Schmerzenskinder" befasst sich Waris mit den Schicksalen von Frauen, die wie sie grausam verstümmelt wurden - unter dem Vorwand der Tradition.

Nun gibt es also ein neues Buch von Waris Dirie, vielleicht sogar ihr persönlichstes. Waris ist vor einem Stalker nach Wien geflohen und hofft, dort endlich eine Heimat und ihren Frieden zu finden. Da erfährt sie von ihrem Bruder, dass es ihrer Mutter sehr schlecht geht; diese leidet unter schrecklichen Bauchkrämpfen und kann zu Hause in Somalia nicht behandelt werden. Sofort setzt Waris alle Hebel in Bewegung, um die Mutter nach Wien zu den dortigen medizinischen Kapazitäten zu holen. Bis nach Abu Dhabi fliegt sie ihr entgegen, in Somalia wäre es für Waris, die wegen ihrer beschneidungsfeindlichen Kampagnen dort verhasst ist, zu gefährlich.

In Österreich erleidet die Mutter einen regelrechten Kulturschock. Vor allem jedoch geraten Waris und die Mutter in fruchtlose Auseinandersetzungen. Es gelingt Waris einfach nicht, ihre Mutter dazu zu bringen, ihre von der afrikanischen Tradition abweichenden Vorstellungen, ihr ganzes Lebensbild zu akzeptieren, vielleicht sogar zu respektieren. Die Mutter beharrt unbeweglich auf der Tradition, die angeblich auf dem Islam beruht. Waris verzweifelt. Nach dem Abschied fällt sie in ein tiefes Loch; schließlich schreibt sie sich den Schmerz in Form eines Briefs an die Mutter von der Seele, der im Buch alternierend mit einer Nacherzählung der Geschichte um den Wien-Besuch der Mutter, dessen Vorgeschichte und Folgen erscheint.
Waris hat aber nicht nur den eskalierenden Konflikt mit ihrer geliebten Mutter thematisiert, sondern ein dunkles Geheimnis aus ihrer Zeit als Mannequin offenbart, das den "Glamour" der Modewelt entschieden dämpft.

Die unmögliche Verständigung zwischen der fest in der somalisch-islamischen Tradition verhafteten Mutter und der zum Teil europäisierten, wenn auch im Herzen afrikanischen Tochter ist nur eines, wenn auch das zentrale Thema dieses Buchs. Ein weiteres Thema bilden Waris Diries Kampf gegen die Verstümmelung der weiblichen Genitalien, ihre Arbeit im Rahmen einer eigenen diesbezüglichen Stiftung und Erfolge als UN-Sonderbotschafterin, die beispielsweise eine kenianische Politikerin davon abhalten konnte, ihre Töchter beschneiden zu lassen.

Sucht ist ein anderer Aspekt des Buchs, Sucht, ohne die sich der Erfolg in der Glitzerwelt kaum halten lässt. Wie sonst auch, geht Waris damit sehr schonungslos und aufrichtig um, wozu viel Mut gehört. Als viertes Thema greift Waris das Problem Stalking auf, das sich offensichtlich immer weiter verbreitet, und das erst allmählich auch von der Politik ernst genommen wird.

Waris - man wird mit der Autorin dank ihrer Offenheit rasch vertraut, selbst wenn man ihre anderen Bücher nicht kennen sollte - schreibt voller Melancholie, doch die Hoffnung bleibt: die Hoffnung auf ein neues Afrika, in dem Frauen endlich mehr, vielleicht alle Menschenrechte haben, vor allem aber nicht unter dem Vorwand der Tradition beschnitten werden, ein Afrika, in dem Menschlichkeit statt Bürgerkrieg und Terror herrscht.

Schriebe Waris weniger intensiv, authentisch und von echter Verzweiflung getrieben, so könnte man ihr Buch als sentimental, womöglich rührselig bezeichnen; solche Attribute passen aber nicht zu dieser Kämpferin mit Herz, Löwenmut und Verstand, die sich unverbrüchlich ihren ehrgeizigen Ziel verschrieben hat. Waris hat, wie sie in ihrem neuen Buch unter anderem auch mit Fotografien darlegt, viele bedeutsame Menschen kennen gelernt, die wie sie einen scheinbar aussichtslosen Kampf geführt haben, darunter Lech Walesa. Er hat das für den gesunden Menschenverstand Unmögliche vollbracht, warum nicht auch sie? Es wäre ihr zu wünschen. Damit es ihr gelingt, sollten sich möglichst viele Menschen über ihre Anliegen informieren - am besten ganz unmittelbar über ihr tapferes Buch.

(Regina Károlyi; 05/2007)


Waries Dirie: "Brief an meine Mutter"
(Originaltitel "A Letter to My Mother")
Gebundene Ausgabe:
Ullstein, 2007. 213 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Ullstein, 2008.
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Waris Dirie, 1965 geboren, verließ mit 14 ihre Heimat Somalia und schlug sich in London mit diversen Tätigkeiten durchs Leben, bis sie als Fotomodell entdeckt wurde. 1998 veröffentlichte sie ihre Autobiografie "Wüstenblume", 2001 erschien "Nomadentochter" und 2005 ihr Drittes Buch "Schmerzenskinder". Alle Titel wurden internationale Erfolge.
Im Jahr 2002 gründete die Autorin die "Waris Dirie Foundation", die gegen die Folter der rituellen Beschneidung in aller Welt kämpft.

Weitere Bücher der Autorin:

"Wüstenblume"

Vom Nomadenleben in der somalischen Wüste auf die teuersten Designer-Laufstege der Welt - ein Traum. Und ein Alptraum zugleich. Denn Waris Dirie wurde im Alter von fünf Jahren Opfer eines grausamen Rituals: Sie wurde beschnitten. In "Wüstenblume" bricht sie erstmals ihr langes Schweigen und erzählt ihre Geschichte. (Ullstein)
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"Schmerzenskinder"
Waris Dirie war fünf Jahre alt, als ihre Mutter sie zu einer alten Frau in den Busch führte. Mit einer zerbrochenen Rasierklinge wurde ihre Klitoris beschnitten, ohne Betäubung. Waris verlor das Bewusstsein. Als sie aufwachte, quälten sie unsagbare Schmerzen, kurz darauf bekam sie eine schwere Infektion und lag tagelang in hohem Fieber. Waris Dirie überlebte. Doch viele der 6000 Mädchen, die täglich Opfer einer Genitalverstümmelung werden, sterben daran. Das grausame Ritual wird seit Jahrtausenden in Afrika praktiziert, vorgeblich im Namen von Religion, Tradition oder Kultur. Was bisher niemand zu sagen wagte: Genitalverstümmelung kommt immer häufiger auch in Europa vor. Allein in Deutschland geht man von mindestens 24000 Fällen aus, vermutlich sind es viel mehr. Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Schon vor einigen Jahren nahm Waris Dirie den Kampf gegen Genitalverstümmelung auf. Sie wurde UNO-Sonderbotschafterin und gründete die "Waris Dirie Foundation", die weltweit aktiv ist, um aufzuklären, gefährdete Mädchen zu schützen und Opfern zu helfen. In den ersten beiden Bänden ihrer Autobiografie "Wüstenblume" und "Nomadentochter" schilderte Waris Dirie ihre Kindheit als Nomadin in der somalischen Wüste, ihren Aufstieg zum international gefragten Topmodell und die Rückkehr nach Afrika, mit der ihr Kampf gegen Genitalverstümmelung begann. In diesem Buch erzählt sie ihr Leben weiter, von dem Tag an, als sie ihr Schweigen brach. Sie erzählt von Begegnungen mit Opfern und Tätern, von den mühsamen Recherchen, von Rückschlägen und Erfolgen. "Schmerzenskinder" ist in vieler Hinsicht ein erschütterndes Buch, doch es ist auch ein Buch voller Kraft und Hoffnung für Millionen Frauen in aller Welt. (Marion von Schröder)
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"Schwarze Frau, weißes Land"
Waris Dirie wurde in der afrikanischen Wüste geboren - und sie ist ihr Leben lang eine Nomadin geblieben. Ihre Arbeit als Spitzenmodell und ihr Engagement für Menschenrechte machten sie in der ganzen Welt berühmt, doch sie ist eine Getriebene, die zwischen den Kulturen steht. Dieses Buch handelt von ihrem Doppelleben in ihrer neuen "weißen Heimat" - wo sie einerseits gefeiert wird, andererseits aber eine Fremde ist, die im Alltag allein wegen ihrer Hautfarbe von Taxifahrern abgewiesen und von Männern als Freiwild betrachtet wird. Als ihr Sohn Leon auf die Welt kommt, wird Waris Dirie ihre Zerrissenheit und Heimatlosigkeit schmerzlich bewusst. Und sie beschließt, ihrem Kind das zu geben, was sie selbst schon lange nicht mehr kennt: eine wirkliche Heimat. (Droemer)
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