Julien Green: "Der Andere"


Kopenhagen 1949, im Hafenbecken wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Die Hintergründe bleiben zunächst offen und der Leser vergisst diese Episode auch schnell wieder.

In einer Rückblende kehrt man zum Sommer 1939 zurück. Zähflüssig zieht sich der Text dahin, ebenso zähflüssig wie die Bemühungen von Roger, einem jungen Franzosen, auf der Suche nach amourösen Abenteuern. Die nordischen Schönheiten haben es dem jungen Mann angetan, aber keine davon spricht französisch und es will ihm nicht gelingen Bekanntschaften zu schließen. Einzig die mysteriöse und undurchschaubare Karin, die halb dänisch, halb deutsch ist, versteht seine Sprache. Doch ausgerechnet sie begehrt er nicht.

In seiner Verzweiflung wendet er sich an Fräulein Ott, die den Ruf hat als Kupplerin zu agieren. Bei einer von Fräulein Ott inszenierten Gesellschaft lernt er den unansehnlichen, aber reichen Mister Gore und seine schöne Geliebte Ilse kennen, für die er heiß entflammt. Der Versuch die Bekanntschaft zu Ilse zu vertiefen schlägt fehlt und stürzt Roger in noch tiefere Depression.

Karin scheint der einzige Ausweg zu sein. Immer wieder begegnet er ihr scheinbar zufällig. Ihre Treffen sind unbefriedigend, bestehen aus Andeutungen und Missverständnissen. Dennoch rührt sie ihn in ihrer Unschuld und weckt seine Zärtlichkeit. Sie geht ihm nicht mehr aus dem Sinn und auch wenn er es sich nicht eingestehen will, er hat sich ihn sie verliebt. Doch die Tage ihrer Liebe sind gezählt, denn über allem schwebt die Drohung des Krieges und wird schließlich Wirklichkeit.

Zehn Jahre später treffen sich die beiden wieder, aber nichts ist mehr so wie es war. Der Krieg hat Roger gebrochen und ihn zu einem tief gläubigen Menschen gemacht. Er glaubt, dass er Karin, als er sie damals verführte, vom gläubigen Weg abgebracht hat und will das wiedergutmachen, indem er sie bekehrt.

Karin lebt unterdessen ein zurückgezogenes und einsames Leben. Sie wird von der ganzen Stadt geächtet, weil sie sich im Krieg mit deutschen Offizieren eingelassen hat. Ihr einziges Bestreben liegt darin Roger, den sie noch immer zu lieben glaubt, an sich zu binden. Doch er verlässt sie wieder und weist ihr damit einen Weg zu Gott.

Julien Greens Roman ist keine leichte Kost. Alptraumhaft schlängelt sich die Erzählung dahin. Grotesk sind die Begebenheiten und die Charaktere. Unsympathisch und oberflächlich erscheint Roger, aus dessen Sicht die Geschichte zunächst erzählt wird. Dann wechselt die Perspektive und Karin, einsam und unglücklich, zugleich aber berechnend und kalt, ist am Wort. Der jeweils andere bleibt undurchsichtig und seine Handlungen mysteriös.

Skurril sind auch die Nebenfiguren, deren Motive im Dunkeln bleiben. Die Erzählung haftet zuweilen etwas Willkürliches, Traumhaftes an. Unweigerlich fragt man sich als Leser, warum Karin jahrelang als Außenseiterin in der Stadt lebt und ihr nie der Gedanke kommt wegzuziehen und ein neues Leben zu beginnen? Doch die Handlungen der Hauptfiguren entziehen sich oft der Logik, die psychologischen Schlüsselfaktoren bleiben verborgen.

Auch der Krieg scheint sich immer nur im Hintergrund abzuspielen, entweder bevorstehend oder bereits vorbei. Er wird nicht direkt erwähnt oder beschrieben, manifestiert sich nur in der bedrückenden, düsteren Atmosphäre die sich durch den gesamten Text hindurchzieht.

Bleibt schließlich noch die Suche nach Gott, die ein zentrales Thema darstellt. Der junge Roger will Karin vom Glauben abbringen und sie zur Sexualität führen. Zehn Jahre später kehren sich die Rollen um. Aber am Schluss findet auch Karin zur Religion zurück. Nachdem Roger sie verlässt hat sie eine Vision: Der Andere ist plötzlich nicht mehr Roger, sondern auch Gott.

Beklemmend, aufwühlend, verstörend sind die Adjektive mit denen man Julien Greens Werk über Liebe, Tod, Wahnsinn und die Suche nach Gott am besten beschreibt.

(wm, November 2001)


Julien Green: "Der Andere"
Carl Hanser Verlag, 2001. 352 Seiten.
ISBN 3-446-20050-9. ca. EUR 23,50.
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