Savinien Cyrano de Bergerac: "Reise zum Mond und zur Sonne"

"Wenn geistreich zu sein bedeutet: Erfinder zu sein, das heißt von Grund auf und in der Form schöpferisch, dann hat niemand auf der Welt so viel Recht auf diesen Titel wie Cyrano de Bergerac." (Théophile Gautier, 1867)


Cyrano de Bergerac, jener Mann, der mit dem Wort ebenso treffsicher Pointen landete wie mit dem Degen, ist aus Theater und Film bestens bekannt. Steht eine Neuinszenierung an, rittert die erste Garde französischer Schauspieler um das Privileg, den Helden mit der überdimensionierten Nase mimen zu dürfen. Dem Nimbus zu voller Strahlkraft verholfen hat der Dichter Edmond Rostand, der "Cyrano de Bergerac" am 28. Dezember 1897 auf die Pariser Bühne brachte. Gegenläufig zum naturalistischen Strom der Zeit konnte sein Cyrano als romantischer Bohemien reüssieren. Eloquenz im Wortduell, Kunstfertigkeit im Kampf, Ehrgefühl dem Nebenbuhler gegenüber sowie eine an Selbstaufgabe grenzende Liebe zur schönen Roxane, das ist der Stoff, der Rostands unglücklichem Recken zu literarischer Unsterblichkeit verhalf. Doch Cyrano de Bergerac ist nicht bloß ein papiergeborener Heros á la d'Artagnan oder Zorro, er existierte wirklich. Eine Tour durch die Vergangenheit des Haudegens lohnt sich, denn Cyranos Leben hatte in mancherlei aufregender Hinsicht große Ähnlichkeit mit Rostands gleichnamiger Kunstfigur.

Leben und Sterben eines Freidenkers

Am 6. März 1619 in der Pariser Rue des Deux-Portes geboren, verbringt Cyrano de Bergerac die Kindheit auf dem Lande, am großväterlichen Gut in Mauvières. Als 18-Jähriger studiert er gemeinsam mit Molière beim Philosophen Pierre Gassendi (1592-1655), einem eifrigen Verfechter des kopernikanischen Weltbildes. Bei ihm flammt Cyranos lebenslange Liebe zur Astronomie wie auch der Hang zur Herrschaftskritik auf. Gassendis ideelle Ansätze ziehen sich quer durch das spätere literarische Werk de Bergeracs. Doch ehe er sich Wissenschaft und Kunst zuwendet, tritt Cyrano in den Militärdienst, kämpft gegen Deutsche wie Spanier und erwirbt sich bei den als rauflustig verschrieenen Gascogner Kadetten den Ruf eines démon de la bravour. Musketenkugel und Säbelhieb bereiten seiner martialischen Karriere aber ein frühes Ende. Jahre bitterer Armut und wahrscheinlich auch eine Syphiliserkrankung folgen. Erst die 10.450 Livres aus dem väterlichen Nachlass machen ihm wieder ein menschenwürdiges Leben möglich. Schließlich stellt sich der Freidenker Cyrano de Bergerac unter die Obhut des Herzogs von Arpajon, was einigermaßen Schutz vor den erbosten Parteigängern der Kirche, allen voran den Jesuiten, bietet. Immer wieder wird er bezichtigt, Gotteslästerung und Häresie zu betreiben. 1653 gerät die Aufführung von Cyranos Tragödie "Der Tod der Agrippina" zum gesellschaftlichen Skandal. Von Atheismus ist die Rede, und der Herzog zieht sukzessive seine schützende Hand von de Bergerac zurück, um nicht selbst in Misskredit zu geraten. Ideale wie Freiheit, Selbstbestimmung und das Rütteln am geozentrischen Weltbild bringen im 17. Jh. leicht Kerker oder Tod ein: Galileo Galilei oder Giordano Bruno sind die besten Beispiele.

Im Januar des Jahres 1654 zieht sich Cyrano eine schwere Kopfverletzung zu. Wahrscheinlich war er in einen Hinterhalt geraten. Am 28. Juli 1655 stirbt er 36-jährig. 1910 wird durch Zufall seine Sterbeurkunde gefunden.

Fragment gebliebene Romantrilogie

Henri Lebret, Herausgeber von Cyranos Werken, hatte offensichtlich Angst vor dem literarischen Nachlass seines Schulfreundes. Immer wieder wartete er mit der Veröffentlichung zu bzw. schrieb besonders systemkritische Passagen um. Überhaupt ist es sehr schwierig zu bestimmen, wann die Romane "Die Reise zum Mond" und "Die Reise zur Sonne" entstanden sind. Zweiterer blieb ohnehin Fragment. Wahrscheinlich ist, dass Cyrano eine Trilogie geplant hatte. Das Manuskript zu "Der Funke", dem dritten Teil, blieb bis dato verschollen. Worum geht es in den Reiseberichten zum Mond und zur Sonne? Was machte sie für die damals herrschende Elite so gefährlich?

"Die Reise zum Mond"

Mittels einer selbst gebastelten Rakete wird der Ich-Erzähler auf dem Militärgelände von Quebec, Neufrankreich, zum Mond geschossen. Dort oben gelandet, besucht er das "irdische Paradies", wo er auf die alttestamentarischen Gottesmänner Henoch bzw. Elias trifft. Im Diskurs mit den Patriarchen macht sich Cyrano über Fresssucht und Sexualmoral des Klerus lustig. Gott hätte demnach die aus dem Garten Eden berüchtigte Schlange in den menschlichen Körper verbannt: "Ihr nennt sie Gedärm. (...) Wenn Ihr Eure Eingeweide zischen hört, dann ist das die Schlange, (...). Gott schickte Euch diesen gefräßigen Nimmersatt, damit Ihr erstickt, wenn Ihr ihm zu viel zu essen gebt." Zotig geht's weiter: Die Schlange, die immerzu aus dem Leib des Mannes entschlüpfen will, dringt mit Hals und Kopf aus dessen Unterleib hervor: "Gott hat aber nicht erlaubt, dass der Mann allein davon gequält werde, er wollte, dass sie sich gegen die Frau aufrichtet, um ihr das Gift einzuspritzen, und dass diese Schwellung, nachdem sie gebissen wurde, neun Monate dauere." Diese Früchte vom Baum der Erkenntnis liegen Elias schwer im Magen, er wirft den philosophierenden Erdling aus dem Paradies hinaus.

Bald trifft der Vertriebene auf die eigentlichen Mondbewohner und wird von ihnen in Gewahrsam genommen. Viel erfährt er über die Kultur der langnasigen Lunarier, die ein Alter von 3.000 bis 4.000 Jahren erreichen. Kriege werden bei ihnen in Fairness ausgefochten. Am wichtigsten dabei ist nicht der Waffengang, sondern das intellektuelle Kräftemessen danach, zu dem die gelehrtesten Köpfe beider Konfliktparteien antreten. Apropos Waffen: Edelmänner des Mondes führen in ihren Wappen anstelle eines Schwertes ein männliches Glied: "Unglücklich das Land, in dem Zeichen der Zeugung schimpflich sind und die der Vernichtung ehrenwert", ein Satz aus Cyranos Feder, der wohl prägnant auf die herrschende Moral in den USA anno 2005 passen würde. Geld gibt es am Mond nicht, bezahlt wird in Sonetten, Elegien oder Oden. Cyrano, der Gelehrte, der scharfe Beobachter, der schneidende Kritiker. Tugenden wie diese sind dem Teufel wohl zu viel; er befördert den Mondfahrer am Ende des Romans wieder zur Erde zurück, wo ihn - in Italien gelandet - die Hunde verjagen, weil er noch nach Mond riecht.

"Die Reise zur Sonne"

Mit einem eigentümlich konstruierten Kastengefährt erreicht der Ich-Erzähler von Frankreich aus in 22 Tagen die Sonne. Dort trifft er zunächst einen kleinen, nackten Mann, der auf einem Stein inmitten von Schlammlöchern sitzt. Er weiht ihn in das Geheimnis der Ursprache ein, die Verständigung mit allem ermöglicht, was im Bereich der Natur lebt. Der Sonnenreisende erfährt, dass die Bewohner dieses Sterns bis zu 8.000 Jahre alt werden und er sieht jene drei Ströme, welche die ganze Sonne bewässern: Gedächtnis (tosend und breit), Fantasie (sanftfließend und tief) sowie Urteilskraft (schmal gebettet).

Cyrano übt ätzende Kritik am geozentrischen Weltbild, nach dem die Erde ja im Mittelpunkt des Universums stünde. Soll etwa die Sonne nur dazu gut sein, unseren Kohl rechtzeitig zum Köpfeln zu bringen? In Sachen Untertanengeist nimmt de Bergerac vieles vorweg, was Friedrich Nietzsches Geißelung der "Sklavenmoral" einmal ähnlich formulieren sollte. Die Menschen, heißt es, "neigen so sehr zur Knechtschaft, dass sie sich aus Angst, es könnte ihnen an Möglichkeiten zum Dienen mangeln, gegenseitig ihre Freiheit verkaufen". Wahrscheinlich hat es Cyrano bei seiner sonnengeladenen Kritik u.a. auch auf die eigenen devoten Geschwister abgesehen, die Priester bzw. Nonne wurden: "Bei alldem haben diese Unfreien solche Angst, es könne ihnen an Herren fehlen, dass sie sich, als fürchteten sie, die Freiheit überrasche sie von irgend einer unerwarteten Seite, allseits Götter aushecken, im Wasser, in der Luft, im Feuer und unter der Erde."

Die Reise zur Sonne endet abrupt bei einer Unterhaltung mit den Philosophen Descartes und Campanella. Wie und wann der Sonnenfahrer wieder zur Erde zurückkam, blieb Cyranos Nachwelt nicht erhalten; das Ende des Romans fehlt.

Cyrano, der frühe Tierrechtler?

Am Mond stößt der Ich-Erzähler auf einen Philosophen, dem Fleischgeruch zuwider ist, da er nichts isst, was er "fähig hält, Schmerz zu empfinden". Auf der Sonne bringt das Zusammentreffen desselben Ich-Erzählers mit dem Volk der Vögel Gefangennahme und Prozess. Er wird angeklagt, Mensch zu sein: "etwas so Abscheuliches, dass es heilsam wäre, zu glauben, er sei nur ein imaginäres Wesen". Weiter: "... der Mensch, der behauptet, man urteile nur nach dem Befund der Sinne, und der doch selbst die schwächsten, trägsten und fehlerhaftesten Sinne von allen Geschöpfen besitzt, der Mensch schließlich, den die Natur, genau besehen wie ein Ungeheuer geschaffen hat, dem sie aber dennoch den Ehrgeiz eingab, allen Lebewesen zu befehlen und sie auszurotten.", dieser Mensch "schreibt sich infolge einer lächerlichen Herrscherlichkeit ganz artig das Recht über Leben und Tod über uns zu. Er stellt uns Fallen, legt uns in Ketten, er wirft uns in den Kerker, er erwürgt, er isst uns, und aus der Macht, die Freigebliebenen zu töten, macht er ein Vorrecht des Adels." In philosophischer Umkehr zum menschlichen Verhalten gegenüber Tieren erklingt es aus den Kehlen der Ankläger: "Er hat weder Schnabel noch Federn noch Krallen und soll eine geistige Seele besitzen?" Ein Seitenhieb auf Aristoteles und Thomas von Aquin, die eine Seele der Tiere verneinten. Letztlich rettet den gefangenen Sonnenreisenden nur die Fürsprache des Papageis "Cäsar", dem er einstmals auf der Erde die Freiheit wiedergegeben hatte. Mit dieser Geschichte transportiert Cyrano gegenseitiges Mitgefühl als zentrale Botschaft.

De Bergerac und die Technik

Er hatte weder das Ingenium für Mechanik eines Leonardo da Vinci noch die fast seherische Ahnung für zukünftige technische Entwicklungen wie ein Jules Verne. Gänzlich frei von technischen Visionen war ein großer Geist wie Cyrano nicht. Sein mit Brennspiegeln und Kristallprisma betriebener Sonnenwagen verfügt über ein "künstliches Auge, mit dem man nachts sehen kann". Nachtsichtgerät würde man wohl heute simpler Weise dazu sagen. Die Lunarier wiederum haben keine geschriebenen Bücher, sondern Maschinen, bei denen man den Zeiger auf das Kapitel, das man hören will, drehen muss "und schon ertönen aus dieser Nussschale wie aus dem Mund eines Menschen oder von einem Musikinstrument alle verschiedenen und unterschiedlichen Töne". Ein Grammofon mit Sphärenklängen?

Meist ist die Technik bei Cyrano de Bergerac aber nur Vehikel sarkastischer Hintergedanken. Etwa dann, wenn er den Ich-Erzähler seinen Körper mit Ochsenmark bestreichen lässt, um so mit seiner Rakete schneller zum Mond zu gelangen. Im volkstümlichen Aberglauben war es damals weit verbreitet, anzunehmen, zunehmender Mond sauge den Rindern das Mark aus den Knochen. Auch ein missglückter Himmelsflug mittels an den Leib gebundener Glasflaschen, die Tautröpfchen beinhalten, spottet der Rückständigkeit seiner Zeitgenossen.

"3582 Cyrano", in höheren Sphären kreisend

Wer die leserische "Reise zum Mond und zur Sonne" antritt, braucht zunächst Ausdauer, vor allem Geduld, sich in der Ideenwelt des 17. Jh. zurechtzufinden. Einige der Philosophen samt ihrer Konzepte sind mittlerweile nur mehr wenig bekannt. Fußnoten und Anhangregister erleichtern die Orientierung ungemein. Je mehr man die anfängliche Gravitation der gewohnten Denkmuster hinter sich lässt, desto interessanter gerät der All-Tourismus. Und auch wenn auf den 360 Seiten des Buches kein einziges Mal eine schmachtende Roxane vorkommt, verliert die Figur des Cyrano de Bergerac nichts von ihrer romantischen Anziehungskraft. Umso öfter die Persönlichkeit des historischen Cyrano aus den beiden utopischen Romanen durchscheint, desto sympathischer wird sie dem Leser. Ein Charakter manifestiert sich, dem die Freiheit das höchste Gut ist, nicht nur seine eigene, sondern die aller empfindsamen Lebewesen. Cyrano de Bergerac rüttelte lange vor der Aufklärung an den Herrschaftssäulen des katholisch-absolutistischen Europas, Klerus wie Adel werden schonungslos vorgeführt; stets aber so, dass bei aller ernsthaften Kritik die manchmal feine, ein andermal burleske Ironie nie zu kurz kommt. Willkürliche Hierarchien der Lächerlichkeit preiszugeben scheint die Maxime des pointenreichen Libertins gewesen zu sein. Daneben tritt ein großes naturwissenschaftliches Interesse zutage, vor allem gegenüber der Astronomie. Bei Recherchen im Internet stieß der Rezensent (im übertragenen Sinn) auf "3582 Cyrano", einen Asteroiden aus dem Großen Gürtel zwischen Mars und Jupiter, 1986 entdeckt und nach de Bergerac benannt. Für einen Denker und Dichter, der seinen Blick stets nach den Sternen richtete, eine passende Würdigung.

(lostlobo; 08/2005)


Savinien Cyrano de Bergerac: "Reise zum Mond und zur Sonne"
Deutsch von Wolfgang Tschöke.
Eichborn, 2005. 360 Seiten.
ISBN 3-8218-0732-6.
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