Marc W. Kirschner, John C. Gerhart: "Die Lösung von Darwins Dilemma"

Wie die Evolution komplexes Leben schafft


Zur scheinbaren Unmöglichkeit zur Entstehung des Auges auf der Basis der Evolutionstheorie

Darwin selbst erkannte den größten Schwachpunkt in seiner Evolutionstheorie: Wie konnten komplexe Strukturen wie das Auge oder ein Flügel entstehen, wenn eine solche Entwicklung doch eine enorme Anzahl von zunächst für das jeweilige Individuum nutzlosen oder gar störenden Zwischenschritten erfordert? Müssten diese Zwischenstufen nicht, dem von Darwin vorgeschlagenen Mechanismus folgend, ausgemerzt werden?

Seit sich in den USA die Tendenz verstärkt, die Evolutionsbiologie in den Schulen zu degradieren oder ganz aus dem Lehrplan zu streichen, ist Darwins Dilemma unwillkürlich in den Mittelpunkt des Streits um die Gültigkeit der Evolutionstheorie gerückt.

Marc W. Kirschner und John C. Gerhart, namhafte Biologen an der Harvard Medical School beziehungsweise an der University of California in Berkeley, zeigen auf, dass es glaubwürdige Erklärungsansätze für die Richtigkeit der Evolutionstheorie gibt, die das Dilemma entkräften, und die sich beweisen lassen.

Das Buch geht ausführlich auf Darwins Dilemma ein und stellt vor allem die Theorie der beiden Autoren vor, deren zentraler Aspekt die "erleichterte Variation" ist. Den Kernpunkt der Theorie bildet die Beobachtung, dass Lebewesen seit mehreren hundert Jahrmillionen, teilweise seit weit über einer Milliarde Jahren, bestimmte Kernprozesse nutzen, die im Verlauf der Evolution zumindest aus molekulargenetischer Sicht nur wenig abgewandelt wurden. Dazu gehört nicht nur der genetische Code, der seit Beginn des Lebens auf der Erde beibehalten wurde, sondern auch wesentlich komplexere Elemente wie die Entwicklung der Tiere aus befruchteten Eiern, die für die jeweiligen evolutionären Schritte lediglich geringfügiger Abwandlungen bedurfte.

Die Evolution macht sich zum einen zunutze, dass viele Proteine multifunktionell sind und sich daher für unterschiedliche Zwecke in diversen "Schaltkreisen" einsetzen lassen. Zum anderen werden so komplexe Organismen wie Tiere einschließlich des Menschen von relativ wenigen Genen gesteuert - viele Gene erfüllen mehrere Funktionen, indem sie sich zu gegebenen Zeitpunkten und in unterschiedlichem Kontext an- und abschalten lassen. Geringfügige Änderungen in solchen Schaltungen erzeugen unter Umständen eine beträchtliche Abweichung beim Phänotyp (das heißt, dem Lebewesen, wie es dem Betrachter erscheint, etwa als blau- oder braunäugiger Mensch, im Gegensatz zum Genotyp, der die genetische Ausstattung meint), die vielleicht von Vorteil ist oder sich andernfalls vielleicht nicht als hinderlich erweist, daher nicht ausgemerzt wird und sich zum Ausgangspunkt für neuerliche Variation entwickelt, wenn die äußeren Bedingungen es erfordern. Diese Änderungen können sehr leicht, auch durch äußere Einflüsse, erzeugt und selektiert werden. Man spricht bei solchen untereinander vernetzbaren Prozessen von der "schwachen regulatorischen Kopplung", weil die Kopplung der betreffenden Prozesse leicht variiert, neu erstellt oder unterbrochen werden kann, auch wenn die Auswirkungen unter Umständen sehr stark ausfallen.

Somit zeigen die Autoren auf, dass unter Beibehaltung der erwähnten Kernprozesse ("Man soll nie in ein funktionierendes System eingreifen", sagt man in Bezug auf Geräte und Netzwerke) im regulatorischen Bereich bei geringer genetischer Abwandlung enorme Änderungen des Phänotyps in wenigen Schritten möglich sind.

Dieses Buch, beziehungsweise die darin vorgestellte Theorie, kann in der Tat Darwins Dilemma zumindest größtenteils auf nachvollziehbare und beweisbare Art auflösen. Es wendet sich gleichermaßen an Naturwissenschaftler, die ihre Kenntnisse zum Thema Evolutionsbiologie auf den aktuellen Stand bringen wollen - seit dem Ende der 1990er-Jahre hat es enorme Fortschritte gegeben -, und an Laien, die sich für das Gebiet interessieren und sich gegebenenfalls mit ausreichendem Hintergrundwissen an der Diskussion um die Gültigkeit der Evolutionslehre, speziell auch auf die Schule bezogen, beteiligen wollen.

Dem Laien, selbst wenn er das Biologiewissen bis zur Matura/zum Abitur einigermaßen beherrscht, wird die Lektüre nicht ganz leicht fallen, denn wenn die Autoren auch versuchen, das "Fachchinesisch" auf ein gut verdauliches Maß zu reduzieren, so handelt es sich bei den besprochenen Vorgängen doch um hochkomplexe Prozesse auf molekularer Ebene, die sich kaum allgemeinverständlich darlegen lassen. Besteht beim fachfremden Leser wirkliches Interesse, so kann er jedoch die Argumentation nachvollziehen; das Buch eignet sich zwar nicht unbedingt als Lektüre für die Fahrt mit der U-Bahn, verspricht jedoch ein spannendes Wochenende. Vorkenntnisse in Bezug auf Evolution, Molekulargenetik und verwandte Bereiche der Biologie erleichtern die Lektüre erheblich. Die zahlreichen Skizzen und das ausführliche, umfassende Glossar erweisen sich für das Verständnis als sehr hilfreich.

Sofern der Leser bereit ist, sich mit dem Buch intensiv auseinanderzusetzen (dies gilt natürlich weniger für Naturwissenschaftler), wird er enorm davon profitieren, denn eine so gründliche und dabei eben auch Laien einbeziehende Darstellung der revolutionären evolutionsbiologischen Erkenntnisse der letzten zehn oder fünfzehn Jahre gibt es auf Deutsch anderweitig vermutlich nicht.

(Regina Károlyi; 07/2007)


Marc W. Kirschner, John C. Gerhart: "Die Lösung von Darwins Dilemma. Wie die Evolution komplexes Leben schafft"
(Originaltitel "The Plausibility of Life")
rororo, 2007. 415 Seiten.
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