Alev Croutier: "Palast der Tränen"

"Je vous aime. Je vous aime. Die Worte entschlüpften ihren Lippen wie Rauchkringel und verloren sich tief in der Weite des Traums. Er hatte ihre Stimme schon früher in seinen Träumen gehört. Ihre Augen trafen sich. Ein intensives Verlangen nach ihrer Nähe ergriff ihn. Er streckte seine Hand aus, um sie zu berühren."

Ein Aussteiger, eine in Ungnade Gefallene, Sehnsucht, der Orient und die Schicksalsmächte der Liebe:
Die Zutaten für eine bezaubernde Liebesgeschichte voller geheimnisvoller Begebenheiten


Casimir de Châteauneuf, der 35 Jahre alte, mit der schmucklos-biederen Espérance verheiratete Gutsbesitzer, Weinhändler und Vater dreier Söhne namens André, Antoine und Alphonse, pendelt zwischen den Fixpunkten seines Daseins: der Familie auf dem Landsitz, den Geschäftsinteressen und seiner rothaarigen Mätresse in Paris. Doch seinem Leben fehlt das gewisse Etwas; er langweilt sich entsetzlich.

Eines Tages schlägt ihn ein Miniaturporträt, das er in Paris in einem Laden für Orientalia entdeckt und ersteht, voll und ganz in seinen Bann: Es zeigt eine junge Frau, "La Poupée", wie die Aufschrift erläutert, im mit goldenen Tulpen bestickten grünen Kaftan, mit einer Haut wie Elfenbein. Ihre Augen sind besonders reizvoll: das eine blau, das andere bernsteinfarben - und Casimir vermeint das Gesicht zu kennen. Er ist begierig, etwas über die bezaubernde Frau zu erfahren, doch der Ladenbesitzer kennt lediglich den Namen des Malers: Nomade. 
In der folgenden Nacht nimmt das Schicksal seinen Lauf, denn Casimir träumt, von Sehnsucht und Liebe erfüllt, intensiv von der unbekannten Schönen - und diese träumt ihrerseits von ihm! 
Doch wie zu einander finden? Casimir sucht den Maler am Montmartre, doch Nomade ist bereits in den Orient zurückgekehrt.
So kommt es, dass sich Casimir, von brennendem Verlangen getrieben, gleichfalls kurzerhand nach Ägypten einschifft und abreist, ohne seiner Familie die Gründe seines Verhaltens darzulegen. Doch er kommt zu spät: Nomade ist in einer Sturzflut des Nil umgekommen, sein Atelier zerstört, alle möglichen Hinweise auf die Gesuchte vernichtet! 
Casimir de
Châteauneuf irrt verzweifelt durch Felswüsten, auf der Suche nach jemandem, der ihn zu "La Poupée" führen könnte und entwickelt fiebrige Wahnvorstellungen infolge eines Sonnenstichs. Ein Seher bescheidet ihm: "Du musst warten, bis dich dein Kismet findet. Du hältst sein Licht ab." Und tatsächlich, wie sich wenig später zeigt, ist der schicksalhafte Ruf des Herzens mächtiger als alles Andere  ...

Unterdessen fristet "La Poupée", die "lebende Puppe" der, durch ein grausames Geschick in den Orient verschlagenen Aimée de Rivery, der französischen Sultanin Nakshedil, ein trauriges Dasein im Palast der Tränen, wo die in Ungnade gefallenen Frauen des Hofes eingesperrt sind. Zu Lebzeiten der französischen Sultanin hatte der reisende Maler Nomade unter abenteuerlichen Umständen, denn kein Mann durfte den Harem betreten,  jene Porträtminiatur angefertigt, die Casimir de Châteauneuf Jahre später bei einem Pariser Händler erstehen sollte.
Das Mädchen, eine gebürtige Tscherkessin, und die unglückliche Verschleppte, eine Jugendfreundin der nachmaligen Gemahlin des Napoleon Bonaparte, Joséphine, waren bis zum Tod der Sultanin enge Freundinnen gewesen, und Aimée de Rivery hatte "La Poupée" Umgangsformen und ihre eigene Muttersprache, Französisch, beigebracht. "La Poupées" Vergehen bestand darin, sich heimlich als Aufseherin der 1001 Bände in der Bibliothek umfangreiches Wissen angeeignet und "sündige" Texte gelesen zu haben, was den Frauen im Harem selbstverständlich grundsätzlich untersagt war - ein Umstand, der allerdings im Verlauf der Geschichte wesentlich dazu beiträgt, dass sie und Casimir einander begegnen. Darüber hinaus hatte die unterschiedliche Färbung ihrer Augen ("der böse Blick") dazu beigetragen, dass gar Mancher bei Hofe ihr übel gesonnen war.

Erschöpft und resigniert kehrt Casimir vorerst nach Châteauneuf-du-Pape zurück, wo ihn seine Frau gesund pflegt, und er sich danach in die Arbeit in seinen Weinbergen stürzt, um zu vergessen. Als die verheerende Reblausplage über Frankreich hereinbricht, sinnt er auf einen Weg, seine Reben zu retten und reist erneut nach Paris, wo er den Bauherrn des Suezkanals, Ferdinand de Lesseps, kennen lernt, der ihn am kaiserlichen Hof einführt. Casimir unterbreitet der Kaiserin Eugénie seinen Plan, reblausresistente Weinsorten aus dem Ägäis-Raum zu beschaffen, um die heimischen Kulturen darauf zu pfropfen.

Also begibt sich Kaiserin Eugénie samt Gefolge, dem Casimir angehört, am 30. September 1869 auf die Reise, die sie über Venedig nach Konstantinopel, in den Beylerbeyi-Palast des Sultans führt, wo es zur ersten Begegnung von "La Poupée" und Casimir de Châteauneuf kommt.

Doch das Glück fällt den Liebenden keineswegs in den Schoß; es gilt, zahlreiche Hindernisse zu überwinden, die zerstörerischen Wirren der Weltgeschichte und die politischen Umstürze unbeschadet zu überstehen, sich den kulturellen Unterschieden zu stellen ...
Ob beziehungsweise wie Casimir und "La Poupée" schließlich glücklich vereint sind, soll an dieser Stelle nicht verraten werden!

"Palast der Tränen", Alev Croutiers erster Roman, halb historisch, halb biografisch, halb erfunden, erzählt die zauberhafte Geschichte ineinander verflochtener Geschicke sinnenfroh und einfühlsam, setzt weltbewegende Ereignisse und historische Persönlichkeiten in Bezug zu einander und öffnet ein Geschichtsfenster zu einer verschwundenen Welt.

(K. Eckberg; 10/2002)


Alev Croutier: "Palast der Tränen"
Aus dem Englischen von Birgit Brandau.
dtv, 2002. 199 Seiten.
ISBN 3-423-24325-2.
ca. EUR 14,-. Buch bestellen

Alev Lytle Croutier wurde in der Türkei geboren. Sie lebt in San Francisco und Paris. Bekannt wurde sie durch ihr in 22 Sprachen übersetztes Buch "Harem. Die Welt hinter dem Schleier". 

Ergänzender Buchtipp:

Alev Croutier: "Das Haus der Seidenweberin"
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