Louis-Ferdinand Céline: "Tod auf Kredit"

Der Phoenix aus der Gosse 


Die bekannteste literarische Haltung des Großkritikers Marcel Reich-Ranicki ist sein Unmut über zu lange Bücher. Was man auf zweihundert Seiten nicht sagen könne, lohne sich auch nicht, auf fünfhundert oder tausend Seiten hin ausgewälzt zu werden.

Von den bekanntesten Büchern Célines, "Reise ans Ende der Nacht" und "Tod auf Kredit", muss man sagen, dass man nach 700 Seiten bedauert, dass sie schon zu Ende sind. Es sind ungewöhnliche Bücher in einem hastigen, wie Tupfen andeutenden Erzählstil, den es so woanders nicht mehr gibt, und der krasse Unflätigkeiten mit höchstem Sprachwitz verbindet und einem die elende, existenzielle Seite des Lebens nahe bringt wie kein anderer.

Die deutschsprachigen Rechte am Werk Célines liegen beim Rowohlt-Verlag. Im März 2003 erschien dort eine Neuübersetzung von "Reise ans Ende der Nacht", die ein großer Verkaufserfolg ist. Nun kommt "Tod auf Kredit" nach, zwar nicht neu übersetzt - was in manchen Bereichen den Stil etwas antiquiert wirken lässt. Trotzdem ist man dankbar, wieder auf das epochale Werk Célines aufmerksam gemacht zu werden. Auch "Tod auf Kredit" ist ein Buch, das man mit Genuss und Gewinn liest.

Louis-Ferdinand Destouches (sein bürgerlicher Name) war Arzt. Sein Werk ist im Wesentlichen autobiografisch. Die ersten hundert Seiten bringen einem Glanz und Elend des Arztberufes in höchst amüsanter Weise dar. Das Schimpfen des Erzählers wird den armseligen ärztlichen Knechten der kassenärztlichen Vereinigung von heute beim Lesen Lustgewinn bringen. Danach aber lenkt ein erotisch unverfrorener Fiebertraum auf die Kindheit des Erzählers im Paris des Goldenen Zeitalters, der großen Weltausstellungen, in deren Rahmen ja auch der Eiffelturm entstand. Dieses Leben war der blanke Horror, und vom Wunder, das danach noch ein relativ gesetztes Akademikerleben möglich wurde, davon handelt dieses Buch.

Es ist eine französische Kindheit, bei der man an Francois Truffauts "Sie küssten und sie schlugen ihn" denkt, die Geschichte eines Pubertierenden, der Schwierigkeiten hat, seinen Platz in der Welt zu finden. Der Roman wurde Anfang der dreißiger Jahre geschrieben und erinnert stilistisch und thematisch stark an Witold Gombrowiczs "Ferdydurke" ein ähnlich witziges, experimentierfreudiges und pessimistisches Werk, in dem das Individuum bei allen Anfeindungen doch als Sieger hervorgeht. Das Elend der Vorstädte und Armenviertel tritt bei Celine aber im Gegensatz zu Gombrowiczs Gymnasiastenwelt so plastisch hervor, dass man nicht sagen kann, ist das nun Expressionismus oder Realismus oder Stoizismus. Irgendwann liest man nur mehr intensiv, vorangetrieben von der Atemlosigkeit des Erzählstils. Man könnte es auch nennen: Charles Dickens auf Speed.

Die Geschichte bleibt gegen Ende hin offen und wirkt improvisiert. Tatsächlich aber ist die Sache gut konstruiert. Man erfährt im Laufe der Zeit, wie aus dem katastrophalen Beginn eines Lebens, das mehrmals in den Abgrund zu führen scheint, doch noch ein gelungenes werden kann, und dass einem manchmal Spinner und Exzentriker das Leben retten können.

(Berndt Rieger; 01/2005)


Louis-Ferdinand Céline: "Tod auf Kredit"
(Originaltitel "Mort à Crédit")
Deutsch von Werner Bökenkamp.
Rowohlt, 2005. 704 Seiten.
ISBN 3-499-23847-0.
ca. EUR 10,20. Buch bei Libri.de bestellen
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Louis-Ferdinand Céline wurde am 27. Mai 1894 geboren. 1932 erschien sein berühmter Roman "Reise ans Ende der Nacht". Nach einer Reise in die Sowjetunion 1936 veröffentlichte er antisemitische Pamphlete. 1944 floh er aus Frankreich. Er wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Nach der Amnestie kehrte er 1952 zurück und ließ sich als Armenarzt in Meudon nieder. Céline starb am 1. Juli 1961.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Reise ans Ende der Nacht"

Célines "Reise ans Ende der Nacht" gehört zu den größten, aber auch den umstrittensten literarischen Werken des 20. Jahrhunderts. Verfasst unter dem schockierenden Eindruck des großen Schlachtens im Ersten Weltkrieg, ist es ein wilder Aufschrei gegen die Verkommenheit einer Welt, die ihre Rechnungen auf Kosten der Armen begleicht, in der Hass und Niedertracht das Leben bestimmen - ein wüstes, anarchisches Buch voll sprachlicher und gedanklicher Explosivkraft, mit dem ein neues, bahnbrechendes Kapitel in der Geschichte des Romans begann. Die Aktualität seiner radikalen Zivilisationskritik ist heute unverändert.
Der Rowohlt Verlag legte im März 2003, in der Übertragung des renommierten Literaturübersetzers Hinrich Schmidt-Henkel (Übersetzer u.a. von Célines "Guignol's Band II"), eine zeitgemäße Neuübersetzung von Célines Roman vor. Es ist die erste vollständige Übertragung des Originaltextes in deutscher Sprache. Sie ersetzt die bislang lieferbare, 1938 im tschechischen Mährisch-Ostrau erschienene Fassung, die unter dem Eindruck der faschistischen Herrschaft in Deutschland von den damaligen Herausgebern gekürzt und sprachlich wie politisch entschärft wurde. (Rowohlt)
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"Von einem Schloss zum andern"
Dieser autobiografische Roman beginnt in Sigmaringen, wo Céline unter fürchterlichen Bedingungen als Lagerarzt arbeitet, zum Kriegsende aber nach Dänemark weiterflüchten muss. Dort macht man ihm den Prozess. Man schiebt ihn Jahre später nach Frankreich ab. Céline starb 1961 verarmt in seiner Heimat. Die absolute Respektlosigkeit in Celines politischer Abrechnung und seine ausdrucksstarke, exzessive Sprache, die wie eine Bombe in die Welt der Literatur einschlug, machten ihn zu einem der wichtigsten und aufregendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. (Rowohlt)
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"Guignol's Band"
Auflösung und Panik bestimmen das Romangeschehen: der Ausnahmezustand des Krieges im London des Jahres 1915, der verwundete Erzähler Ferdinand im halbkriminellen Milieu, inmitten einer Bande von Zuhältern, Prostituierten, Hehlern und Bombenwerfern. Wie Gliederpuppen ("Guignol" spielt auf das gleichnamige Theater für Horrorstücke an) zappeln die Personen an Fäden, die der Krieg zieht. (Rowohlt)
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"Guignol's Band II"
"Guignol's Band II" spielt in dem kriminellen Milieu Londons im Ersten Weltkrieg und setzt den Roman "Guignol's Band" fort, der deutsch 1985 vorgelegt wurde.
"Guignol's Band II" ist eine wilde Orgie und ein frenetisches Bacchanalienfest, auf dem eine vierzehnjährige Jungfrau in einem Pub vergewaltigt wird, ein mythomanischer Derwisch und Dämonenbeschwörer auf dem Picadilly Circus deliriert und vom Gas wahnsinnig gewordene Erfinder sich wechselseitig die Haut abziehen. (Rowohlt)
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"Norden"
Im Vordergrund dieses Romans steht die Not des Menschen auf der Flucht, des Menschen in der Falle, des Menschen, der, verzweifelt und voller Gräuel über die Ungerechtigkeit der Welt, kein Vertrauen in die Zukunft hat, der nicht weiß, wovon er sich am nächsten Tag ernähren und ob er diesen Tag überhaupt erleben wird. Die Sprache dieser letzten Eruption des Vulkans Céline ist jener gehetzte und hetzende Argot, jenes "Französisch des 21. Jahrhunderts", dem dieser Autor seinen Platz in der Weltliteratur verdankt. (Rowohlt)
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