Víctor Català alias Caterina Albert i Paradís: "Solitud"


Die Wucht des Schicksals
Victor Catalàs Klassiker "Solitud" zeichnet atmosphärisch die Einsamkeiten des Lebens


Ein Klassiker der katalanischen Literatur erscheint erstmals auf Deutsch: "Solitud" von Caterina Albert i Paradís - berühmt geworden unter dem Namen Víctor Català. Ursprünglich als Fortsetzungsgeschichte für eine Zeitschrift konzipiert, wurde der Roman 1905 in Buchform veröffentlicht und erzielte durchschlagenden Erfolg, der auch mehr als hundert Jahre danach noch spürbar ist.

"Solitud" offenbart ein starkes erzählerisches Genie der Schriftstellerin Caterina Albert i Paradís - alias Víctor Català (1869-1966). Sie vermag auf unnachahmliche Weise "eine Handlung zu entwickeln und sie in einen kühnen, verschlungenen, einmaligen Stil zu kleiden, verglichen mit dem, was zu ihrer Zeit in Katalonien (und Umgebung) Maßstab war", berichtet der katalanische Journalist und Autor Jordí Puntí in seinem Nachwort zu diesem Buch.

Derweil sind ihre Texte mehr oder weniger ausschließliche Extrakte ihrer Fantasien, denn die Autorin konnte nicht gerade auf ein reichhaltiges Leben zurückblicken. Sie lebte fast ständig ans Haus gefesselt, sah, obwohl sie in einem Küstenort wohnte, nie das Meer. All ihren geistigen Reichtum verdankte die Schriftstellerin, die aus einer reichen Familie mit Landbesitz stammte, dem Leben mit Büchern. In der Bibliothek des Hauses, in der auch literarische Strömungen aus dem Ausland (Henrik Ibsen, Maurice Maeterlink) Aufnahme fanden, vertrieb sie sich die Langeweile. "In meinem Klosterdasein hinter geschlossenen Fensterläden, in einem Dorf, wo es nicht einmal einen Klavierlehrer gab, war das Schreiben meine einzige Zerstreuung. Sticken machte mir keinen Spaß. Ich ging selten spazieren. Ich kenne mich fast nirgends aus", sagte sie 1926 in einem Interview.

Doch wenn man ihre Werke und vor allem diesen Roman liest, mag man dies nicht glauben. Ihre Geschichte um die Bauerntochter Camila - genannt Mila - durchzieht ein unglaublich klares Wissen um die Leiden der menschlichen Existenz auf dem Lande:
Mila bezieht mit ihrem Mann Matias eine Einsiedelei in der schroffen Bergwelt Kataloniens, in der Nähe der Ortschaft Murons. Voller Optimismus - der Schönheit der Natur im schwindenden Herbst gewahr - stellt sich die junge Frau mit der "schreckhaften Rehnatur" dem eremitischen Leben. In dem Schäfer Gaietà findet sie einen wahren Freund und entwickelt für dessen Gehilfen, den kleinen Baldiret, mütterliche Gefühle. Voller Eifer stürzt sie sich in die Arbeit. Sie putzt, pflanzt, gestaltet Heim und Garten. Doch zunehmend stellen sich Langeweile und verstärkte Entfremdung und Verachtung zu ihrem - in den Tag hinein lebenden - Mann ein. "Er war schwach und feige, von dieser Schwäche und Feigheit, die Faulpelzen eigen ist." Die fantasievollen Geschichten des Schäfers - am abendlichen Feuer erzählt - lenken sie von der aufkommenden Lethargie ab. Des Schäfers heitere Gelassenheit gibt ihr das Gefühl, dass "in diesen düsteren Bergen längst nicht alles Schmerz und Schrecken war."

Doch ein unheilvoller Schatten schwebt über allem, verkörpert vom unheimlichen Ànima, einem Wilderer, halb Tier, halb Mensch in seinem Aussehen, der Mila nachzustellen scheint und dessen Gegenwart auch den sonst so friedvollen Schäfer verändert. Es scheint Gefahr von ihm auszugehen. Matias hingegen fühlt sich zu ihm hingezogen, ist immer öfter mehrere Tage verschwunden. Er ist dem Glücksspiel verfallen und bringt die kleine Familie in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten.

Mila verfällt zunehmend in Depressionen. Sie magert ab, lässt sich gehen, weint den ganzen Tag. Wiederum ist es Gaietà, der sie ins Leben zurückholt. Er wandert mit ihr in die Bergwelt, erzählt wieder seine wunderbaren Geschichten und öffnet ihr den Blick nach innen. "Alles auf der Welt ist schön, wenn man es mit den richtigen Augen ansieht, Einsiedlerin." Das eigene menschliche Dasein gerät in den Hintergrund. "Verzaubert vom unerschöpflichen Einfallsreichtum ihres Freundes, sah sie, wie sich das Land des Roquìz vor ihr ausdehnte, bis darin ganze Welten Platz fanden." Mila scheint sich in den alten Mann zu verlieben.

Doch da geschieht ein tragisches Unglück. Die junge Frau verlässt die Einsiedelei, aber allein ...

"Solitud" ist ein Werk von unglaublicher psychologischer Tiefe, die alle Charaktere durchdringt, ein Roman mit gesellschaftlicher Brisanz. Die Autorin vermag den Leser unweigerlich in diese Geschichte hineinzuziehen. Sie stellt immer neue Fallen und hält ständig neue Reize bereit. Ihre Figuren sind auf veritable Weise lebendig, fast körperlich greifbar und vertraut. "Denn psychologisch sind die Charaktere vollständig ausgereift, insbesondere Mila in ihrer latenten Sinnlichkeit, von der sie verzehrt und aus der Bahn geworfen wird, bis sie sich letztlich entschließt, dem Begriff solitud eine neue Deutung zu geben" (Jordí Puntí).

Großartige atmosphärische Landschaftsbeschreibungen, hellwach und von berauschender Schönheit geprägt, runden das Werk ab. Durch diese Szenerie lässt Victor Català die junge Einsiedlerin und ihre Begleiter ziehen wie belebte Figuren auf einem unermesslich großen Gemälde. Die Erzählung schwirrt dem Leser geradezu wie eine gesummte Melodie durch den Kopf, um schließlich in ein dramatisches Finale zu münden.

"Solitud" strahlt durch die sinnträchtige Wortwahl, die reiche komplexe Sprache, welche von Petra Zickmann imposant ins Deutsche übertragen wurde, einen besonderen Reiz aus. Der Roman ist von großer mythischer Schönheit und Stofflichkeit geprägt. Er ist einerseits ein wundervolles Porträt einer Epoche mit ihren ländlichen Sitten, dem religiösen Leben und dem dramatischen Schicksal einzelner Figuren, kann aber anderseits auch als Entwicklungsroman der jungen Mila gelesen werden.

Eine jüngere Studie des Werkes von Rosa Delor stellt sogar eine ebenso gewagte wie verführerische These auf: Roberto Rossellini hat sich für das Drehbuch zu seinem Film "Stromboli" (1950) von "Solitud" inspirieren lassen. Und wenn man beide Werke kennt, so kann einer gewissen Parallelität nicht widersprochen werden.

Fazit: "Solitud" ist ein moderner Roman, "weil er die formalen Regeln des 19. Jahrhunderts mit den Seelenkrisen, die das 20. mit sich bringen wird, bereits zusammenführt". Zur Zeit seines Erscheinens wurde der Autorin vorgeworfen, sich zu weit von den Formen des naturalistischen Realismus entfernt und die negativen, düsteren Aspekte des Lebens zu übertrieben dargestellt zu haben. Aber wie stellte die Autorin bereits damals fest und trifft heute umso mehr den Ton der Zeit: "Mein Credo ist der ungebremste Elektrizismus (...) das Leben schäumt und sprudelt über jede Form hinaus (...) Ich möchte es in seiner ganzen Komplexität darstellen."
Ein brillantes Buch, das auch hundert Jahre nach seinem Entstehen nichts von seiner Intensität verloren hat!

(Heike Geilen; 08/2007)


Víctor Català alias Caterina Albert i Paradís: "Solitud"
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann.
Mit einem Nachwort von Jordí Puntí.
SchirmerGraf Verlag, 2007. 370 Seiten.
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Caterina Albert i Paradís, (1869-1966) veröffentlichte alle ihre Werke unter dem männlichen Pseudonym Víctor Català. Geboren in l'Escala, einem Fischerort nahe der französischen Grenze, schrieb sie bereits als junges Mädchen Lieder und Gedichte; ihr erstes Buch "El cant dels mesos" ("Das Lied der Monate") erschien 1901. Bis 1905, dem Erscheinungsjahr von "Solitud", hatte sie bereits drei Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht und gehörte zu den wichtigsten Autoren ihres Landes. Die spätere Unterdrückung der katalanischen Sprache durch Franco ließ die Autorin vollständig verstummen; sie verließ ihren Geburtsort zeit ihres Lebens kaum und verbrachte gegen Ende lange Jahre im Bett.