Raymond Carver: "Erste und letzte Storys"


Erst als ich mir "Short cuts" zum dritten oder vierten Mal ansah, fiel mir während der mit einleitenden Szenen angereicherten Signation der Name Raymond Carver ins Auge, auf dessen Erzählungen der Film beruht. Es dauerte noch mal eine Zeit lang, bis ich mir ein kleines Büchlein besorgte, in dem hauptsächlich jene Geschichten von Carver versammelt sind, die sich in "Short cuts" genial ineinander verschachteln. Die selected stories im Original zu lesen machte die Angelegenheit umso interessanter.

Raymond Carver verstarb im Jahre 1988 an Lungenkrebs. Es vergingen zehn Jahre, ehe die nunmehr vorliegenden ersten und letzten Stories entdeckt, und zum Teil veröffentlicht wurden. Tess Gallagher, Raymonds Seelengefährtin und Wegbegleiterin, sah ihre Aufgabe nach seinem Tod darin, sich um das zu kümmern, was bleibt. Sie versteht diese Geschichten als Zugabe, die in Ehren gehalten werden sollte. Es möge zu keiner Abqualifizierung kommen, weil sie vergleichsweise unvollendet sind. Tess fand die wunderbaren Geschichten über Verlierer und Gestrandete, Einsame und Todessehnsüchtige, Arbeitslose und der Arbeit Überdrüssige, Liebessucher und Gequälte, Neurotiker und Erstarrte in 176 Pappkartons, die sie dem Charvat-Archiv für amerikanische Literatur in der Ohio State Library als Bestandteil übereignen mochte.

1986 besuchten Ray und Tess das Casino der Wiesbadener Spielbank, wo seinerzeit Dostojewski ein Vermögen gewonnen und verloren hatte. Sie setzten auf die Zahl 24, was ihnen viel Glück brachte. Später flogen sie nach Reno, Nevada, wo sie ebenfalls Casinos besuchten, und am 17. Juni 1988 heirateten. Die russische Literatur hatte es Ray angetan, und es ist bezeichnend, dass seine letzte, zu Lebzeiten veröffentlichte, Erzählung, vom Tode Tschechows handelt. Es ist gespenstisch, mit welchem Esprit diese Geschichte voranschreitet und sich letztlich in geheime Schlupflöcher verzieht, wo der Tod seinen Schrecken verliert.

Von den frühen Erzählungen, die also noch ungeschliffen waren, und teilweise ein wenig holprig wirken, ist jene von "Harry´s Tod" die berührendste: Ein Mensch stirbt plötzlich, und zurück bleiben fassungslose Freunde und eine Frau, die ihn geliebt hat. Ein Arbeitskollege von Harry besucht die Stammkneipe des Verstorbenen und befindet sich in einem Zustand, der einer Trance gleicht, in der alles der Gleichgültigkeit anheim fällt. Er beschließt, die Angetraute von Harry zu trösten, und mit ihr durch die Straßen und Kneipen der Stadt zu ziehen. Die Frau weint sich die Augen aus, und es dauert lange, bis sie den Tod des geliebten Mannes überwunden zu haben glaubt. Doch es verwundert nicht, dass sie eines Tages verschwindet und nie mehr wiederkehren wird.

Es sind stets traurige Geschichten, die Raymond Carver erzählt. Er sticht unter die Oberfläche der Menschen, und es erscheinen Schicksale, die allesamt berühren und nie den Anschein erwecken, konstruiert zu sein. Meist sind es Paare, die in Augenschein genommen werden, und durch ein gemeinsames Leben dümpeln, das doch nur geteilte Einsamkeit ergibt. Die Menschen sind losgelöst von dem Gefühl, funktionieren zu müssen, und stranden umso leichter an Küsten innerer Verstörung. Bezeichnend dafür die für den Rezensenten erstaunlichste der neuen Erzählungen "Wer immer in diesem Bett geschlafen hat": Ein Mann und eine Frau schlafen in ihrem gemeinsamen Bett, als gegen drei Uhr morgens das Telefon läutet. Eine offensichtlich betrunkene Frau verlangt Mister X, der freilich nicht anwesend ist. Aus dieser winzigen Begebenheit entsteht im Laufe des frühen Morgens ein Gespräch zwischen dem nunmehr hellwachen Paar über Leben und Tod, Sterbehilfe und den Versuch, den Wahnwitz des Lebens zu entschlüsseln. Es sind immer Kleinigkeiten, die Dinge in Gang bringen, von denen sonst nie jemand erzählt hätte. Raymond Carver erzählt von diesen Dingen.

Der Versuch, das Leben zu verstehen, wird Tag für Tag unternommen; aber wer mag daran glauben, dass er die Weisheit mit dem Löffel gefressen hat? Carver beschreibt das Leben in schmerzhaften Momenten und Sehnsucht nach Erneuerung. Die Geschichte "Träume" ist ein Signal für die Grausamkeiten des Lebens und die stets voranschreitende Zeit: Eine Frau erzählt ihrem Mann Tag für Tag ihre lebendigen Träume, während der Mann vorgibt, keine Träume zu haben. Eines Tages passiert im Nachbarhaus ein Unglück: Zwei Kinder sterben in den Flammen, während die Mutter erst frühmorgens von ihrer Arbeit nach Hause kommt und, der Kindersärge ansichtig werdend, nie mehr die Frau sein wird, die sie vorher war.

Einige der Geschichten haben etwas Komisches an sich, das ja auch im Film "Short cuts" ein tragendes Element ist. So etwa die Beschreibung des Daseins eines Mannes, der sich für Bruder, Mutter, Ex-Frau und Schwester aufopfert, obzwar er selbst nicht allzu viel vom Leben hat. Er bezahlt Rechnungen und Miete, Studienaufenthalte und Möbel, und quält sich so durchs Leben, ohne zu verzweifeln.

Die Menschen, die in Carvers Universum versammelt sind, scheinen ebenso durch ein unsichtbares Band miteinander verbunden, wie dies im Film "Short cuts" demonstriert wird.

Es ist ein besonderes Leseerlebnis, diese Menschen mit ihren Hoffnungen, ihrem Schmerz, ihrer Trauer, ihren Sehnsüchten und ihren Niederlagen zu begleiten.

(Jürgen Heimlich; 10/2002)


Raymond Carver: "Erste und letzte Storys"
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus.
Gebundene Ausgabe:
Berlin-Vlg, 2002. 354 Seiten.
ISBN 3-8270-0331-8.
ca. EUR 19,90.
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