Bernardo Carvalho: "Mongólia"


Einem Stipendium für schriftstellerische Arbeit der Fundacao Oriente von Lissabon war es zu verdanken, dass der brasilianische Autor Bernardo Carvalho zwei Monate lang die Mongolei bereisen konnte. Eine Zielauswahl, bei welcher der exotisch-abenteuerliche Aspekt eine große Rolle gespielt haben dürfte - die Mongolei befindet sich von Brasilien aus gesehen ziemlich auf der anderen Seite der Erdkugel, jedenfalls lässt Carvalho kein besonderes Interesse an dem Buddhismus, der Nomadenkultur, den Przewalskipferden oder was sonst als mongolische Spezialität gilt, erkennen, sein Bestreben geht vielmehr dahin, die Atmosfäre des Landes als einer relativ abgeschlossenen Welt mit ihrem eigenen Regelwerk auf sich einwirken zu lassen. Bemüht darum, die zahlreichen Eindrücke von der Reise möglichst frisch und unmittelbar an den Leser weiterzugeben, andererseits vorschnelles persönliches Urteil stärkstmöglich zurückzunehmen, wählte Carvalho eine zwiefach gebrochene Herangehensweise zur Beschreibung des fernen Landes.

Der Icherzähler, Brasilianer und pensionierter Diplomat in Rio de Janeiro, erinnert sich anlässlich des Todes eines Kollegen an die kurze gemeinsame Zeit in Peking, ihre vielen Streitgespräche und dass er von dem Verstorbenen noch Tagebücher besitze, die er ihm zurückzugeben vergessen hat. Diese Tagebücher stammen aus der Zeit, da er seinen Kollegen mit dem Auftrag, einen Landsmann, Fotograf aus reichem Haus und auf einer Reise durch die Mongolei spurlos verschwunden, aufzuspüren oder zumindest sich über dessen Schicksal Klarheit zu verschaffen, dem Verschollenen hinterhergeschickt hat. Erstmals nimmt er sich nun diese Tagebücher vor, was ihm den Verstorbenen wieder näherbringt und manche von dessen seltsamen Verhaltensweisen erklärt, vor allem aber den Ort der Handlung, die Mongolei beleuchtet. Der Roman besteht im wesentlichen aus einer Nacherzählung dieser Reise, in welche immer wieder Ausschnitte aus den Tagebüchern (auch aus einem des Verschollenen, das unterwegs von dem ihn Suchenden aufgefunden wird) eingewoben werden.

Auf einer äußeren Ebene erfolgt das Kennenlernen des Landes über seine größten Attraktionen, Orte und Landschaften also, die von den wenigen Individual-Touristen, die seit ihrer Öffnung die Mongolei heimsuchen, mit Vorliebe frequentiert werden. Diese Pfade wandelte - mit gewissen Abweichungen - der Fotograf, und der Diplomat wandelt, nachdem ihm als erster Teilerfolg gelungen ist, den Fremdenführer des Verschollenen nebst bereits erwähntem Tagebuch ausfindig zu machen, spurensuchend mit diesen hinterdrein. Es beginnt in der Hauptstadt Ulaanbaatar, führt in die Wüste Gobi und die mongolischen Steppen, ins Altaigebirge, zu Rentiere züchtenden Tsaatan an der Grenze zu Russland und verschiedensten Nomadenfamilien, man begegnet anderen Fremdenführern mit ihrer kostbaren Fracht, kasachischen Falknern, traditionellen Untertonsängern und ziemlich vielen Nonnen und Mönchen. Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems ist der einst mächtige Buddhismus im Wiedererstarken begriffen, und Klöster sind in einem äußerst dünn besiedelten Land von Nomaden als einzige Fixpunkte eine unverzichtbare Quelle der Information. Tatsächlich ist es auch in einem Kloster, dass der Diplomat die erste brauchbare Spur des Gesuchten in Form einer buddhistischen Gottheit findet. Narkhajid heißt sie und ist, wie der Diplomat bei seinen Recherchen in Ulaanbaatars Internetcafés feststellt, eine mongolische Variante der indischen Vajryogini. Und so sieht sie aus: eine wilde nackte rote Göttin mit einem dritten Auge auf der Stirn, einer Kette aus Totenschädeln um den Hals und einem halb geöffneten Geschlecht, ihre Füße stehen auf zwei am Boden liegenden Körpern oder Leichen, in einer Hand hält sie ein Hackmesser, in der anderen eine mit Blut gefüllte Schädeldecke, und es ist zu vermuten, dass sie dem Verschollenen Anlass zu irrationalem Verhalten gegeben hat.

Werden durch die hinzukommende religiöse Dimension der große Argwohn, das schlichte  Unverständnis und das Gefühl, ständig belogen zu werden, mit denen der Diplomat Land und Leuten bisher schon begegnet ist, nicht noch verstärkt, dann nur, weil sie bereits ein Höchstmaß erreicht haben. "Westler" ist der Spitzname, mit dem die Einheimischen ihn bedenken (während sie den Verschollenen "der Unangepasste" genannt haben, was aber, vergleicht man ihre Tagebucheintragungen, nicht gerade einen Gegensatz bedeutet), und mit dem "Westler" ist keine Anspielung auf Brasilien, von dessen Existenz nur die wenigen leidgeprüften Fußballfreunde der Mongolei eine Ahnung haben, gemeint. Wobei es sich bei dem Diplomaten nicht um einen arroganten Menschen handelt, eher ist es so, dass er mit seiner ablehnenden Grundhaltung Widerspruch und unmissverständliche Erklärungen von seinem jeweiligen Gegenüber provozieren will, eine Taktik, die in der Mongolei allerdings (ebenso wie bereits vorher in Peking) fehlschägt. Viele Begründungen hierfür wie für andere mongolische Eigenheiten werden das ganze Buch hindurch geboten, sei es der Buddhismus, der auf dem Weg zum Heil Spezialwissen für wenig förderlich hält (bzw. gefährliche Tantrapraktiken Eingeweihten vorbehalten bleiben) und jahrhundertelang die Imagination des Volkes in seine Bahnen gelenkt hat, sei es, dass man sich in Zeiten kommunistischer Unterdrückung angewöhnt hat, in Andeutungen zu sprechen, oder schlicht, dass in den riesigen Weiten des Landes wenig so ankommt, wie es losging - wie sehr welche Erklärungsmuster zutreffen, bleibt freilich dahingestellt, nicht einfache Antworten sollen gegeben werden, sondern eine dichte Atmosfäre. Das ist Bernardo Carvalho hervorragend gelungen. Sein Roman verwandelt Geschichtliches, Gehörtes, Selbserlebtes und einen fiktiven westlich-allzuwestlichen Geist in ein großes impressionistisches Gemälde der Mongolei, ein - von einer überflüssigen Rahmenhandlung, deren Enden in Brasilien zusammenlaufen, abgesehen - vortreffliches Stück Literatur, das überdies bestens geeignet scheint, mit einer Mongoleireise Spekulierenden als Richtfaden zu dienen, ob sie diese nun antreten sollen oder lieber nicht.

(fritz; 05/2007)


Bernardo Carvalho: "Mongólia"
Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner.
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand Literaturverlag, 2007. 224 Seiten.
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Taschenbuch:
btb, 2009. 224 Seiten.
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Bernardo Carvalho wurde 1960 in Rio de Janeiro geboren. Er ist Schriftsteller und Journalist, hat in Brasilien und Portugal bereits mehrere Romane und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Seine Werke sind in zehn Sprachen übersetzt. Für "Neun Nächte", seine Erstveröffentlichung in deutscher Sprache, erhielt er die beiden renommiertesten Literaturpreise Brasiliens: "Machado des Assis" und "Jabuti":

"Neun Nächte"
Ein literarisches Rätsel, das den Leser bis zum überraschenden Schluss in Atem hält.
Am 2. August 1939, während eines seiner Forschungsaufenthalte bei den Krahô-Indianern in Amazonien, nimmt sich der nordamerikanische Anthropologe Buell Quain auf brutale Weise das Leben. Er ist erst 27 Jahre alt. Keiner kennt die Gründe, der Fall wird auch nicht untersucht. Zweiundsechzig Jahre später stößt ein brasilianischer Autor und Journalist zufällig auf eine Erwähnung dieses Selbstmords - und seitdem lässt ihn das Schicksal Buell Quains nicht mehr los. Wie besessen gräbt er sich in das Leben des einsamen Forschers, der in jungen Jahren um die Welt reiste und Claude Lévi-Strauss persönlich kannte. Er stöbert Briefe auf, spricht mit Nachfahren von Zeitgenossen und fährt selbst zu den Krahô mitten in den brasilianischen Urwald an den Fluss Xingu.
Briefe eines Mannes vom Xingu, dem Quain in insgesamt neun Nächten von seinem Leben, seinen Erfahrungen und Ängsten erzählte, ergänzen das Bild eines Fremden in der Fremde, eines Suchenden, der vom Paradies träumte und stets über seine Grenzen ging.
Dieser preisgekrönte Roman eines der herausragendsten Talente der neueren brasilianischen Literatur, das bereits mit Joseph Conrad, V.S. Naipaul und Bruce Chatwin verglichen wurde, ist eine faszinierende Mischung aus Fiktion und Dokumentation und führt den Leser in einem immer stärker werdenden Sog mitten hinein ins Herz der Finsternis. (Luchterhand Literaturverlag)
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Zwei weitere Bücher des Autors:

"In São Paulo geht die Sonne unter"

Einwanderer nehmen ihre Geschichten mit. So auch Setsuko, die alte, japanische Besitzerin eines Restaurants in São Paulo. Ihre Geschichte handelt von Liebe und Verrat, von Intrigen und vom Krieg und schlägt den Mann, dem sie sie zu erzählen beginnt, vollkommen in ihren Bann. Doch plötzlich ist Setsuko verschwunden ...
Immer wieder besucht ein arbeitsloser Werbetexter ein japanisches Restaurant in seiner Heimatstadt São Paulo. Eines späten, melancholischen Abends fragt ihn Setsuko, die alte Wirtin, ob er Schriftsteller sei. Sie habe eine Geschichte zu erzählen, die nicht der Vergessenheit anheimfallen dürfe. Damit beginnt eine schwindelerregende Reise in die Vergangenheit, in eine tragische Liebesdreiecksgeschichte zwischen einem Mädchen aus gutem Hause, dem Sohn einer wohlhabenden Industriellenfamilie und einem zwielichtigen Schauspieler, die in Japan während des Zweiten Weltkriegs ihren Anfang nahm und fortwirkt bis ins Brasilien unserer Tage.
Doch noch bevor sie ihre Geschichte zu Ende erzählt hat, ist Setsuko eines Tages spurlos verschwunden.
Der Werbetexter, der selbst von japanischen Einwanderern abstammt und ihre Geschichte begierig aufgesogen hat, ist verstört. Er muss die ganze Wahrheit herausfinden. Und so begibt er sich mit seinem letzten Geld auf Spurensuche nach Japan, wo er auf ungeahnte neue Hindernisse und Verwicklungen stößt. (Luchterhand Literaturverlag)
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"Dreihundert Brücken" zur Rezension ...