Veza Canetti: "Die Schildkröten"


Ist Heimat, was man bei sich trägt?

"Schildkröten haben etwas für sich. Sie klammern sich an Felsen, weil der Felsen das Alte und Ewige ist. Sie gleichen sich dem Felsen an. Hätte ich die Wahl, in einer anderen Form in dieser Welt zu leben, dann gewiss als Schildkröte."
"Man lebt hier im Dschungel." (...) "Man wird hier weggeschleppt und ermordet, ohne inneren Zusammenhang."


Das Ehepaar Eva und Dr. Andreas Kain bewohnt ein schönes Haus mit Garten in einem Wiener Nobelbezirk. Andreas Kain ist ein angesehener Gelehrter und Schriftsteller, dessen Wort Gewicht hat; intellektuell, vielleicht ein bisschen weltfremd. Werner, ein Geologe und verschrobener Sonderling, Junggeselle mit einem Faible für Steine aller Art, ist Andreas' älterer Bruder. Hilde, die große, blonde, naiv-optimistische und verwöhnte Tochter der begüterten Nachbarn, besucht Eva und Andreas Kain oft und gern, und in der Stadt werden täglich mehr rote Fahnen gehisst ...
Kulissen und Personen einer heilen Welt?

Weit gefehlt, denn es ist die Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich, die Fahnen sind Hakenkreuzfahnen, und jedes Mal, wenn die Türklingel ertönt, zuckt Eva zusammen. Denn die Kains müssen das Land, das ihnen täglich fremder wird, umgehend verlassen und erwarten bangen Herzens (Eva) bzw. gleichmütig-stur (Andreas) das Ausreisevisum. Sie müssen dulden, dass eine großmäulige örtliche Parteigröße namens Baldur Pilz samt geist- wie geschmackloser Gattin Besitz von ihrer Wohnung ergreift, diese ohne Umschweife umgestaltet und sie schließlich aus ihrem langjährigen Zuhause vertreibt, wobei die Kains sämtliche Einrichtungsgegenstände zurücklassen müssen. Eva und Andreas Kain sehen sich gezwungen, in Werners kleine Unterkunft zu übersiedeln, die dieser bereits mit einem anderen Mann, Herrn Felberbaum, der ebenfalls aus seiner Wohnung vertrieben worden ist und mit unglaublichem Glück zahlreiche Schikanen überlebt (hat), teilt, und dort tagein tagaus weiter zu warten. Andreas will keinesfalls ohne seinen Bruder, den er trotz (wegen?) aller weltanschaulicher Differenzen aus ganzem Herzen liebt, ausreisen. Und Werner weigert sich beharrlich, der ringsum zunehmenden Gewalt zu weichen, ohne die möglichen Konsequenzen seines Verhaltens ernst zu nehmen.

Als das Ausreisevisum endlich eingetroffen ist und das Ehepaar Kain im Zug sitzt, ist nichts mehr, wie es früher war: Hildes wahnwitziger Plan, mit unerlaubterweise vom Bankkonto abgehobenem Geld einen "Aeroplan" von Baldur Pilz zu kaufen, um sich und das Ehepaar Kain damit über die Grenze fliegen zu lassen, schlägt nicht nur fehl, sondern führt zur Verhaftung ihres ahnungslosen Vaters, die Tempel liegen in Schutt und Asche und Werner, mit Andreas verwechselt, wurde an seiner statt verhaftet und in einen Steinbruch deportiert, wo er an den Folgen der Misshandlungen gestorben ist.
"Es kann geschehen, dass man auf Borg lebt. An Stelle eines anderen, eines völlig Unschuldigen, und dieser ist tot. Und es kann der eigene Bruder sein, dessen Leben man borgt. Und man kann es nicht vergessen, man sagt es sich jede Stunde und jede Stunde sagt es."

Veza Canetti (21.11.1897-1.5.1963) schrieb "Die Schildkröten" im Jahr 1939, in den ersten Monaten des Exils in London, unter dem Eindruck eigener leidvoller Erfahrungen; die Veröffentlichung wurde jedoch durch den Kriegsausbruch verhindert. Das Typoskript wurde in ihrem Nachlass gefunden.

Der Roman beeindruckt sowohl durch die erhabene Würde und Klarheit der Worte, durch scharfsinnige Dialoge, als auch durch die überwiegend nüchternen Darstellungen der menschlichen Abgründe jener von Ideologie, Herrsch- und Habsucht Geblendeten und Verführten, die sich und ihr Weltbild auf eine Weise entlarven, die den Leser im Innersten berührt. Keine leichte, allerdings eine unverzichtbare Kost.

(K. Eckberg)


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