Heike B. Görtemaker: "Ein deutsches Leben"

Die Geschichte der Margret Boveri


Die Autorin Heike B. Görtemaker, geboren 1964, studierte Geschichte, Volkswirtschaft und Germanistik in Berlin und Bloomington, USA, und arbeitet als Historikerin in Berlin. Das vorliegende Buch ist eine glänzend geschriebene Arbeit, die eine ungewöhnliche Frau in einer ungewöhnlichen Zeit beschreibt. Die Autorin zeichnet die Figur auf Basis der umfangreichen Quellen, enthält sich aber jeder persönlichen Bewertung, wie man das auch bei einer wissenschaftlichen Arbeit erwarten kann. Dies sei der Besprechung vorangestellt, da der Rezensent diese Neutralität bei der Einordnung der Person nicht mehr für sich in Anspruch nehmen kann.

Leben

In einer Würzburger Professorenfamilie des Jahres 1900, in die Margret Boveri am 14. August hineingeboren wurde, bestimmten der Professorenfamilienstatus und Wilhelminische Kontinuität das Leben. Doch auch die aus New York stammende Mutter, die als erste Frau das Bostoner MIT absolviert hatte, prägte mit ihrem modernen Rollenverständnis das Leben der Heranwachsenden.

Es folgten der Erste Weltkrieg und vor allem der Tod des Vaters, den Margret Boveri sehr verehrt hatte. Das Verhältnis zur Mutter hingegen war widersprüchlich. Einerseits scheint sie von ihr das Selbstbewusstsein erlernt zu haben, denn ihre amerikanische Mutter, die als erste Frau das Bostoner MIT absolviert hatte, zeigte ein Rollenverständnis, das dem der spät-wilhelminischen Provinzstadt Würzburg weit voraus war. Doch andererseits wurden Mutter und Tochter nie Vertraute oder gar Freundinnen.

Boveri studierte Germanistik und Anglistik in Würzburg, dann Geschichte in München und Politikwissenschaft in Berlin, wo sie 1932 bei dem Historiker Wilhelm Oncken promovierte. Sie folgte ihrer Leidenschaft für den politischen Journalismus und arbeitete ab 1934 für das "Berliner Tageblatt", später auch für die "Frankfurter Zeitung" und gegen Ende des Krieges gar für das Staatsorgan "Das Reich".

Zu Anfang verfasste sie Reiseberichte über teils abenteuerliche Touren. So reiste sie u. a. durch den vorderen Orient, quer durch Russland per Bahn und durch die USA mit dem Auto. 1959 unternahm sie noch eine längere Indienreise. Doch ihre Leidenschaft galt der internationalen Politik, und sie publizierte auch dauerhaft über die von ihr bereisten Gebiete. Margret Boveri berichtete als Korrespondentin aus Schweden, Italien, Spanien, Portugal und den USA, wo sie 1942 interniert wurde. Doch sie kehrte wieder nach Berlin zurück und erhielt dort zusammen mit den anderen USA-Korrespondenten eine Kriegsverdienstmedaille.

Nach Ende des Krieges schrieb sie für die "Badische Zeitung" und die "Frankfurter Zeitung", legte aber 1946 mit der "Amerikafibel" bereits wieder ein Buch vor. Bald schon begann sie mit der Aufarbeitung der NS-Zeit und veröffentlichte das Buch "Wir lügen alle". Bei ihrer Aufarbeitung half ihr Uwe Johnson, der gründlich mit ihr ins Gericht ging. 1968 erschien das Buch "Tage des Überlebens", in dem sie die letzten Kriegstage in Berlin verarbeitete. Margret Boveri starb am 6. Juli 1975 in Höfen auf dem alten Familienstammsitz, der die Wirren der Zeit unbeschadet überdauert hatte.
Sie wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und erhielt 1968 für "Tage des Überlebens" den deutschen Kritikerpreis.

Einordnung

Schon der Titel "Ein deutsches Leben" bietet Interpretationsspielräume. "Ein" deutsches Leben legte den Schwerpunkt auf die große Bandbreite deutscher Lebensläufe, wovon jener der Boveri nur eine der möglichen Ausprägungen darstellt. Ein "deutsches" Leben würde unterstreichen, dass sie trotz vieler Auslandsaufenthalte eine Deutsche blieb und Deutschland auch während seiner dunkelsten Zeit nicht den Rücken kehrte. Und genau dieser Prozess kann sich beim Lesen einstellen, wenn man mit "einem" deutschen Leben beginnt und bei einem "deutschen" Leben ankommt.

Margret Boveri hatte immer die Möglichkeit, Deutschland und den Nazis den Rücken zu kehren. Doch sie kehrte stets wieder nach Deutschland zurück. Im Frühjahr 1944, als sich die militärische Niederlage schon deutlich abzeichnete, kehrte sie nach einem Intermezzo in Madrid in das damals schon von Bombenangriffen heimgesuchte Berlin zurück, denn eine Deutsche gehörte ihrer Ansicht nach Deutschland, gerade in der schwersten Stunde. Unverständnis allenthalben. Am 28. März 1944 traf sie mit dem Hauptschriftleiter des Regimeblatts "Das Reich" zusammen und erklärte, sie wolle "in Berlin blieben und das deutsche Bombenleben richtig kennen lernen", wie sie zwei Tage später in einem Brief berichtete. Sie hatte zu allen Zeiten Freunde außerhalb Deutschlands und wäre sicherlich nicht mittellos gewesen, doch sie kehrte immer wieder zurück. Zurückkommen ist stärker noch als bleiben. Sie muss von einem krankhaften Hang zu Deutschland beseelt gewesen sein, denn anders lässt sich dieses Verhalten nicht erklären: Deutschland über alles? Über alles in der Welt? Sogar über das eigene Leben?

Sie liebte Deutschland trotz Hitlers, könnte man sagen, eine Philogermanin reinsten Wassers. Doch das stimmt auch nicht, denn 1939 war sie von der Hitlerschen Außenpolitik bezüglich Polens tief beeindruckt und hielt den Stalin-Pakt für ein politisches Glanzstück. Zu dieser Zeit sei sie reif gewesen für die Partei, schrieb sie einem Freund. Sie ordnete den Nationalsozialismus sogar als Teil einer mit der Französischen Revolution begonnen Entwicklung ein. Solche Nationalromantik kann sich ein Richard Wagner oder ein Gottfried Benn erlauben, aber keine promovierte Historikerin und politische Journalistin.

Das Namensregister eines biografischen Werkes offenbart zumeist erste Hinweise auf die Geisteshaltung der darzustellenden Figur. So sucht man in dem vorliegenden Werk Namen wie Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky oder Karl Kraus vergebens, trifft aber Gottfried Benn an, Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger. Mit Letzterem teilte Margret Boveri auch die politische Vision eines elitären Antiliberalismus. Sie gehörte zu denjenigen, die den Menschen ihre individuelle Rolle absprachen, wie man an sprachlichen Kleinigkeiten erkennen kann. Wenn sie in ihrer 1946 erschienenen Amerikafibel die Amerikaner charakterisierte, so sprach sie von der Andersartigkeit "des Amerikaners" (sic!) im Vergleich "zum" Europäer. Dieser Singular kennzeichnet zumeist Menschen, für die Persönlichkeit und Individualität gesellschaftlichen und rassischen Kriterien untergeordnet sind.

Die parlamentarische Demokratie war Margret Boveri zuwider, denn sie war elitär, nicht egalitär. Sie lehnte die Westintegration der drei Westzonen und der späteren Bundesrepublik rundweg ab und sprach sich für einen Dialog mit Russland aus. Doch dahinter steckte keineswegs ein politischer Gesinnungswandel, sondern ein Wahrnehmungsproblem, denn ihr schwebte ein vereinigtes Deutschland in einem europäischen Kontext vor, das unabhängig wäre von den USA und Russland. Deutschland solle zusammen mit Frankreich der Motor dieses neuen Europas sein. Dass dieses Deutschland wenige Jahre zuvor noch Europa mit einem unmenschlichen Krieg überzogen hatte und nun alle Gründe zur politischen Zurückhaltung aufbieten sollte, schien sie nicht zu bemerken oder nicht zu interessieren. Entweder fehlte es ihr an einem politischen Gespür für Realitäten und Möglichkeiten oder sie war einfach eine politisch schamlose Person mit einem grotesken Patriotismus.

Margret Boveri war, wie sie bekundete, Philosemitin, hätte sich aber auch vorstellen können, Antisemitin geworden zu sein. Doch eine Philosemitin dürfte sie kaum gewesen sein, sonst hätte sie, wenn schon nicht aus humanitären Gründen, doch zumindest das intellektuelle und kulturelle Ausbluten Deutschlands durch den Weggang der Juden beklagt.

Wer heutzutage immer noch mehr oder weniger fassungslos vor dem Phänomen NS-Zeit steht, der findet in diesem herausragenden Buch viele Einblicke in eine schwer verständliche Zeit, die uns noch eine Zeitlang beschäftigen wird.

(Klaus Prinz; 03/2005)


Heike B. Görtemaker: "Ein deutsches Leben"
C.H. Beck, 2005. 416 Seiten mit 18 Abbildungen.
ISBN 3-406-52873-2.
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