Michael Schwelien: "Das Boot ist voll"

Europa zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz


"Einige Ärzte, die schließlich an Bord gingen, fanden blutende Mütter, die auf der kurzen Passage Fehlgeburten erlitten hatten. Sie wateten durch Kot, Urin und Erbrochenes."

Anhand derartiger Informationen erscheint es nahezu unmenschlich Flüchtlinge, die eine so beschwerliche Odyssee in Kauf genommen haben, um endlich in einem sicheren Land ungestört leben zu können, wieder des Landes zu verweisen. Doch diese Zustände sind kein Einzelfall. Schlepper verdienen damit, Flüchtlinge auf teilweise maroden Booten in die "neue Endstation Sehnsucht" zu verfrachten, die ganz eindeutig Europa heißt. Umgeben von Armut ist Europa der reichste Kontinent der Welt. Seit die Grenzkontrollen innerhalb der EU abgeschafft sind, kann sich, wer die Außengrenze der Europäischen Union zu einem der Schengen-Staaten überwindet, in Europa weitgehend frei bewegen, was die Attraktivität des europäischen Kontinents noch zu verstärken scheint.

Michael Schwelien zeichnet ein erschreckendes Bild des Elends: Schlepper verdienen am Unglück der Flüchtlinge, Grenzschützer versuchen die völlig erschöpften Menschen erst gar nicht ins Land gelangen zu lassen, und dabei wird immer öfter übersehen, dass es sich bei diesen Flüchtlingen um Menschen handelt. Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit dem Thema Frauenhandel, das allzu oft als Kavaliersdelikt behandelt wird. Die daraus resultierende unzureichende Strafverfolgung der Täter kann keinesfalls präventiv wirken, und so wundert es kaum, dass jedes Jahr in Europa rund 500.000 Frauen zur Prostitution gezwungen werden. Eine unmenschliche Brutalität, die jeder Freier mit unterstützt.

Schwelien geht auch immer wieder auf das bestehende Asylrecht und die Entwicklung des Schengener Abkommens ein. Er beschreibt, dass es durch die neuen Regelungen für Asylbewerber immer aussichtloser wurde, in die Festung Europa zu gelangen. Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ging demzufolge schnell und deutlich zurück: von 127.940 im Jahr 1995 auf 50.564 im Jahr 2003.

Aber auch die Probleme der Regionen, in deren Häfen und an deren Stränden die Flüchtlinge landen, macht Schwelien zum Thema. Kleine Orte, vor allem in Italien, werden oft punktuell mit einer großen Anzahl an Flüchtlingen, richtigen Elendsgestalten, und gleichzeitig mit ungeheuren Ängsten vor einer massenhaften Einwanderung und stetig gewachsenen Vorurteilen konfrontiert. Dass für diese Menschen Selbstschutz als Gebot der Vernunft im Vordergrund steht, darf keinesfalls verurteilt werden. Doch von einer Überfremdung in Europa zu sprechen wäre verfehlt, denn insgesamt zählten die EU-Staaten neunzehn Millionen - registrierte - Ausländer. Das macht nur 5,1 Prozent der Bevölkerung aus. Darf man daraus folgern, dass die provokante Aussage "Das Boot ist voll" für Europa nicht zutrifft?

"Das Boot ist voll" ist ein wichtiges und absolut lesenswertes Buch, das den Konflikt der Europäischen Union, die sich ja in erster Linie als ein Friedensprojekt versteht, zwischen christlicher Nächstenliebe und dem Selbstschutz als Gebot der Vernunft beleuchtet und der Frage nachspürt: "Brauchen wir Zuwanderung?"

(Margarete Wais; 10/2004)


Michael Schwelien: "Das Boot ist voll"
Marebuch, 2004. 210 Seiten.
ISBN 3-936384-47-9.
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Michael Schwelien, Jahrgang 1948, ist langjähriger Redakteur der "ZEIT".