Jacques Attali: "Blaise Pascal"

Biografie eines Genies


Sehr viel Licht, doch auch Schatten

Die Weite Pascals

Der Biograf Jacques Attali nennt Pascal das größte Genie Frankreichs im 17. Jahrhundert. Doch was ist eigentlich ein Genie? Ohne sich zu sehr auf das schwierige Terrain einer Definition einzulassen, kann man Blaise Pascal dieses Attribut sicherlich zuerkennen, denn seine teils im jugendlichen Alter verfassten Arbeiten auf mathematischem und physikalischem Gebiet setzten eine Kreativität voraus, die auch unter heutigen Gesichtspunkten eindeutig am oberen Rand intellektueller Leistungsfähigkeit liegt. So verwundert es kaum, dass Pascal neben mathematischen Modellen und physikalischen Gesetzen auch eine ungewöhnliche sprachliche Fertigkeit entwickelte, die erst im 18. Jahrhundert durch Voltaire und den Enzyklopädisten d'Alembert eine entsprechende Würdigung erfuhr.

Zu Zeiten Pascals verbreitete sich in Frankreich eine katholische Reformbewegung, die als Jansenismus namentlich von dem holländischen Theologen Cornelius Jansen abgeleitet worden war. Diese gewissermaßen intellektuelle und auch asketische Bewegung vertrat ihre Interpretation der Gnadenlehre des Augustinus und stand im offenen Widerspruch zu den Jesuiten und ihrer im Dienste der Nähe zur Macht geborenen Kasuistik. Viele Intellektuelle im Frankreich des 17. Jahrhunderts sympathisierten offen mit diesem Jansenismus.

Pascal fühlte sich nach einer Zeit der relativen Ausschweifung von dieser Bewegung stark angezogen, nicht zuletzt durch den Eintritt seiner Schwester Jaqueline in das Zisterzienserkloster Port-Royal des Champs, Zentrum des französischen Jansenismus. Im Disput zwischen den Theologen der Sorbonne und den Jansenisten vertrat Pascal anonym in den viel beachteten Briefen "Provinciales" die Position der Jansenisten. Er polemisierte gegen die Dekadenz der Kasuisten, die für praktisch jede Verfehlung bis hin zu Promiskuität und Vatermord eine Absolution bereithielten. Für die asketischen Jansenisten war dies die größtmögliche Form der Dekadenz. Diese 18 Dokumente, die eine enorme Popularität erreichten, waren von einer außergewöhnlichen stilistischen Reinheit und stellten ein erstes Maximum der französischen Sprache dar. Voltaire und der Enzyklopädist d'Alembert hielten das Erscheinen dieser "Briefe in die Provinz" für die Geburtsstunde der modernen französischen Sprache.

Ganz nebenbei erfährt man hierbei einiges über den Jansenismus, was das Wissen des Rezensenten um die europäische Geistesgeschichte der Aufklärung bereicherte.

Pascals wohl bekanntestes Werk sind die Pensées, ein universaler Ansatz von Gedanken zu Gott und der Welt, die vielleicht ein wenig mit Lichtenbergs "Sudelbüchern" vergleichbar sind. Doch diese Pensées sind Fragment geblieben.

Die Grenzen Pascals
Misst man Pascal an seinem Menschenbild, so tritt Erschreckendes zu Tage, denn Menschen existierten aus dem biblischen Sündenfall heraus nur in der Liebe zu Gott. Der Umkehrschluss offenbart das Ausmaß der Tragödie: Wer Gott nicht liebt, ist kein Mensch. Der Biograf fasst Pascals Bild der Religionen wir folgt zusammen: "Alle anderen Völker, die behaupten, Gott habe zu ihnen gesprochen, irren sich, so Pascal. Von China bis Mexiko, von Griechenland bis Ägypten sind alle anderen Religionen bloße Einbildungen [...]." Und weiter heißt es: "Die Ereignisse der menschlichen Geschichte gliedern sich nach den in der Bibel beschriebenen Ereignissen, und für diese gibt es Zeugen: ihre Redaktoren. Die indianische, ägyptische, griechische oder chinesische Geschichte hingegen besteht nur aus Mythen. Laut Pascal haben diese Völker kein heiliges Buch, keine Zeugen und auch keine Märtyrer, die für die Verteidigung ihrer Geschichte starben. Ihre Geschichtsschreibung existiert nur, um uns zu blenden und um sich selbst zu blenden." (Seite 328)

Auf Seite 331 schreibt der Biograf: "Doch wie gelangt man nun dazu, dass man Gott liebt? Das ist einfach. Der Mensch muss alles Menschliche hassen. Er muss sich hassen." Pascal band sich bekanntlich einen Gürtel mit nach innen stehenden Stacheln um, damit er jederzeit einem eventuellen Anflug von Lebensfreude mit einem Druck des Ellenbogens begegnen konnte.

Und so lassen wir Voltaire zu Wort kommen, der den Literaten und Stilisten Pascal, wie bereits erwähnt, zwar verehrte, doch moralisch gegen ihn Stellung bezog: "Der christliche Menschenfeind ist für mich, so erhaben er auch sein mag, ein Mensch wie jeder andere, wenn er sich im Irrtum befindet, und ich glaube, er ist sehr häufig im Irrtum."

Fazit
In alter Rechtschreibung erwartet den Leser eine informative, auch qualitativ hochwertige und den Preis absolut werte Biografie eines Menschen, der sich schon zu Lebzeiten einen enormen Ruf erarbeitete. Das unbestreitbare Genie scheitert aber auch an der Humanität und der Toleranz, denn Pascal vertritt die Standpunkte, mit denen die Kreuzzüge, die Inquisition und die Scheiterhaufen errichtet wurden. Auch wenn Pascal ein überaus brillanter Geist war, so verstellt seine spezielle misanthropische Mystik einem aufgeklärten Leser leider doch viele seiner Gedanken.

Die Biografie ist gründlich und methodisch aufgebaut, verfügt über einen mittigen Bildteil auf Hochglanzpapier, Anmerkungen, ein Personenregister und eine Bibliografie mit sagenhaften 531 Titeln, auf die im Text verwiesen wird. Bei der Bandbreite des Autors über Themen und Epochen hinweg und seinem Publikationstempo kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht ganz den Regeln entsprechend ist die Verwendung der Bibliografie als Quellenbeleg, denn der Beleg verweist auf das Buch, ohne die Fundstelle selbst zu referenzieren.

Das Buch endet nicht mit dem Tod Pascals, sondern es klingt in einer pascalschen Rezeptionsgeschichte aus und einer Form von Kulturkritik und Kulturprognose aus der Perspektive eines Pascal-Biografen und ambitionierten Zeitgenossen.

Eine Werkausgabe Pascals, wie sie einst von dem Heidelberger Verlag Lambert Schneider herausgegeben wurde, existiert ebenso wie der Verlag nicht mehr. Und so sind seine Pensées als Gedanken bei Reclam erhältlich, broschiert und gebunden, die Briefe in die Provinz hingegen nur noch antiquarisch und in ganz geringen Stückzahlen.

(Klaus Prinz; 09/2006)


Jacques Attali: "Blaise Pascal"
(Originaltitel "Blaise Pascal ou le génie français")
Aus dem Französischen von Hans Peter Schmidt.
Klett-Cotta, 2006. 470 Seiten.
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Jacques Attali, geboren am 1. November 1943 in Algier, ist Ökonom und ehemaliger Berater von François Mitterrand. Promotion in Wirtschaftswissenschaften, Diplom der École polytechnique, der Bergbauschule, des Instituts politischer Studien in Paris und der ENA, hat eine Professur inne und war Mitglied des Conseil d'État. Er galt als das "enfant terrible" der französischen Politik- und Kulturszene im Umfeld von François Mitterrand.

Ergänzender Buchtipp:

Blaise Pascal: "Kleine Schriften zur Religion und Philosophie"

Übersetzt von Ulrich Kunzmann. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Albert Raffelt.
Das literarische Werk Blaise Pascals (1623-1662) zählt zu den großen Klassikern der französischen Literatur. Es umfasst neben den Lettres provinciales und den Pensées bedeutende kleinere Schriften zur Religion und Philosophie, die in dieser Ausgabe vollständig und zum Teil erstmalig in deutscher Übersetzung vorgelegt werden.
Dazu gehören so wichtige Texte wie die Methodenschrift "Betrachtungen über die Geometrie im allgemeinen - Vom geometrischen Geist und Von der Kunst zu überzeugen", die wissenschaftstheoretischen Überlegungen der "Vorrede zu einer Abhandlung über die Leere" oder das packende, die Dialektik der Pensées vorwegnehmende "Gespräch mit Herrn de Sacy über Epiktet und Montaigne", das hier in der Übersetzung der neu entdeckten Originalversion vorliegt. Zu wenig beachtet worden sind bislang die religiösen Schriften, so z.B. das "Gebet zu Gott um den rechten Gebrauch der Krankheiten" oder die umfangreichen, nicht abgeschlossenen "Schriften über die Gnade", die Pascals Ringen um die Problematik von Freiheit und Gnade dokumentieren.
Beigegeben ist die Lebensbeschreibung durch seine Schwester Gilberte Périer, eine erstrangige historische Quelle, und im Anhang die "Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe" - nicht von Pascal, aber ein Dokument früher Rezeption und gleichzeitig erstaunlicher Fehlurteile mancher Pascal-Forscher bis heute.
In den Anmerkungen des Übersetzers und des Herausgebers werden Literatur- und Bibelzitate nachgewiesen. Sie lassen die beträchtliche Quellenverwertung Pascals deutlich werden. (Meiner)
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