Robert Gerwarth: "Der Bismarck-Mythos"

Die Deutschen und der Eiserne Kanzler


Die fatale Verklärung Bismarcks durch deutsche Parteien und Interessengruppen

Der "Eiserne Kanzler" wurde 1890 aus seinem Amt gedrängt und geriet vorübergehend etwas aus dem Visier der Öffentlichkeit. Wenig später jedoch kam etwas auf, das an Heiligenverehrung und Mystik grenzte: der Bismarck-Mythos. Ihm musste, wenn auch widerwillig, sogar Kaiser Wilhelm II. Zugeständnisse machen.

Wahren Auftrieb und weitere Nahrung und Verbreitung erhielt dieser Mythos jedoch nach dem Ersten Weltkrieg. Die Niederlage, der "Schandfrieden" von Versailles und die nachfolgenden Umwälzungen und Entbehrungen hatten weite Teile der deutschen Bevölkerung entsetzt und ihr das Vertrauen in die Gegenwart und Zukunft genommen. Auch mit der Republik mochten sich viele nicht abfinden. Dass Bismarck, der Reichsgründer, unter dem Deutschland eine wirtschaftliche Blüte und lange Friedensjahre erlebt hatte, in verklärender Rückschau zu einer beispiellosen Lichtgestalt hochstilisiert wurde, sollte also nicht grundsätzlich verwundern.

Ebenfalls kann es nicht erstaunen, dass sich die Rechte bereitwillig der Gestalt Bismarcks bediente, um die Republik zu untergraben. Sie machte aus Bismarck einen Heros, den großen Führer einer großen Nation, und ließ im Rahmen der Dolchstoßlegende durchblicken, dass die Republikaner Bismarcks Werk zunichte gemacht hätten. Gleichzeitig kam der Ruf nach einem Bismarck ähnlichen Führer auf, der durchaus an die Messias-Erwartung einiger Religionen erinnert.

Auch die Gegner der Rechten vereinnahmten Bismarck für sich, sogar die Sozialdemokraten, die schon aufgrund der Sozialistengesetze allen Grund gehabt hatten, Bismarck zu hassen. Durch den Anschluss Österreichs, so ließen sie verlauten, wollten sie Bismarcks Werk fortführen. Besonders aber Stresemann versuchte - nicht ohne Erfolg -, die Argumentation der Rechten zu untergraben, indem er wie die MSPD ein eigenes Bismarck-Bild vom "Eisernen Kanzler" als Realpolitiker entwarf und dieses dem politischen Feind entgegenhielt.

Der Bismarck-Mythos trug entscheidend zur Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten bei. Dieser war Bismarck unmittelbar durch seine Teilnahme an der Kaiserproklamation in Versailles, indirekt durch seine Siege im Ersten Weltkrieg verbunden und besaß daher gewisse Voraussetzungen, um als Führerfigur aufzutreten.

Es war jedoch Hitler, der, indem er als starker Führer von bismarckschem Format aufzutreten verstand, jedenfalls in den Augen weiter Teile des deutschen Volks, den Bismarck-Mythos am geschicktesten für sich zu nutzen wusste und diesem zunächst huldigte. Kaum war er jedoch an die Macht gelangt, gab er sich alle Mühe, Bismarck zu demontieren: Dieser wurde nicht mehr gebraucht und sollte keine störende Konkurrenz zu Hitler werden. Anschließend bedienten sich fast nur noch Teile des Widerstands der Leitfigur Bismarck.

Die Reste des Bismarck-Mythos wurden durch die totale Niederlage im Zweiten Weltkrieg nachhaltig zerstört. Befürchtungen im Ausland, er könne durch die Wiedervereinigung eine Auferstehung erfahren, haben sich nicht bewahrheitet: Deutschland sieht Bismarck nur noch als historische Figur.

Der junge Historiker Robert Gerwarth hat mit seinem Buch ein interessantes Thema angeschnitten, das selten zur Sprache kommt. Bismarck, eine umstrittene Figur in der deutschen Geschichte, vereinnahmt und zweckdienlich gemacht durch die Feinde der ersten deutschen Republik und zugleich durch deren Verteidiger: welch brisante Konstellation!

Schlüssig und anhand zahlreicher Quellen weist der Autor nach, wie Parteien des gesamten politischen Spektrums von Weimar Bismarck zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Ziele vor ihren Karren spannten und aufgrund der breiten Akzeptanz des Bismarck-Mythos erhebliche Teile der Bevölkerung damit erreichen konnten. Aus diesem Blickwinkel wird die Zerbrechlichkeit der Demokratie nach 1918 sehr gut verständlich; somit ergänzt das Buch hervorragend andere Publikationen zur Weimarer Republik. Vor allem aber wird die oben bereits umrissene Entwicklung des Mythos von ihren ersten Anfängen über den Höhepunkt während der Weimarer Republik und ihrer Krisen bis hin zum Verebben des Mythos in der Hitlerzeit sehr präzise nachvollzogen. Auch eine Einschätzung des Bismarckbildes der Deutschen nach 1945 fehlt nicht.

Nicht immer wird allerdings der konkrete Bezug mancher Ausprägungen des Mythos zur Biografie Bismarcks deutlich. Auch besteht die Gefahr, dass dem Leser der Blick für Bismarcks zweifellos nicht nur in den Augen von Reaktionären vorhandene staatsmännische Verdienste völlig abhanden kommt. Die parallel vorgenommene Lektüre einer guten Bismarck-Biografie bietet sich in diesem Zusammenhang an.

(Regina Károlyi; 04/2007)


Robert Gerwarth: "Der Bismarck-Mythos"
(Originaltitel "The Bismarck Myth. Weimar")
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt.
Siedler Verlag, 2007. 285 Seiten.
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Robert Gerwarth, geboren 1976 in Berlin, studierte Geschichte in Berlin und Oxford. Für seine Dissertation über den Bismarck-Mythos wurde er mit dem renommierten Fraenkel Prize der Wiener Library ausgezeichnet. 2006 war Gerwarth Visiting Scholar am Center for European Studies in Harvard. Er ist Fellow der Royal Historical Society und lehrt neuere deutsche und europäische Geschichte an der Universität Oxford.